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André Francois-Poncet

© AFP

Erinnerungen von André François-Poncet: Tagebuch eines Internierten

Der Blick des französischen Diplomaten André François-Poncet auf das Kriegsdeutschland. Eine Rezension

Dies ist kein Buch für eine schnelllebige Zeit Da stellt sich schon die Frage, ob das eine Trouvaille ist, ein Schatz, der lange im Verborgenen auf seinen Entdecker oder seine Entdeckerin wartete, oder eine verzichtbare Publikation, nur dank generöser Förderung auf dem Buchmarkt präsentiert.

Wäre Letzteres der Fall, müsste André François-Poncets „Tagebuch eines Gefangenen“ hier nicht Gegenstand einer Würdigung sein. Aber die Erinnerungen des ehemaligen Botschafters Frankreichs in Deutschland, 1931 bis 1938 dort im Amt, an seine 20 Monate währende Internierungszeit als „Ehrenhäftling“ der Nazis sind ein bemerkenswertes Zeugnis sowohl feinsinniger als auch scharfer Beobachtungsgabe. François-Poncet hat Tagebuch geführt in der kurzen Haftzeit auf Schloss Itter im Brixental und während des langen Aufenthalts im Hotel Ifen im Kleinwalsertal. Das war schon insofern eine bemerkenswerte Leistung, als ihm schnell klar wurde, dass die Nazis aus beschlagnahmten Unterlagen von seinen intensiven Kontakten zu regimekritischen Kreisen in Berlin während seiner Botschafterzeit wussten. Und die im Hotelzimmer verborgenen Aufzeichnungen waren auch ein Zeichen seiner kritischen Distanz zum Nationalsozialismus.

André François-Poncet: Tagebuch eines Gefangenen. Erinnerungen eines Jahrhundertzeugen. Europa Verlag, München 2015. 608 Seiten, 29,99 Euro.
André François-Poncet: Tagebuch eines Gefangenen. Erinnerungen eines Jahrhundertzeugen. Europa Verlag, München 2015. 608 Seiten, 29,99 Euro.

© Europa Verlag

Allein die Geschichte seiner Verhaftung und die der Haftbedingungen sind wie der Plot eines Romans. Im nicht besetzten Teil Frankreichs wird François- Poncet aus der Familie heraus am 27. August 1943 von der Gestapo Lyon verhaftet und schließlich ins Kleinwalsertal gebracht. Frei kommt er mit dem Vorrücken französischer Truppen am 2. Mai 1945. Warum Hitler ihn verhaften ließ, warum er den SS-Obergruppenführer Ernst Kaltenbrunner, den Chef der berüchtigten Sicherheitspolizei selbst, vorbeischickte, um ihn ins Kleinwalsertal zu überführen – der Diplomat konnte es nur vermuten: Er ging davon aus, dass prominente Franzosen wie er oder der frühere Ministerpräsident Édouard Daladier als Geiseln in Gewahrsam genommen werden sollten, als Tauschobjekte für den Fall einer Gefangennahme führender Nationalsozialisten durch alliierte Truppen. Und bis zum Schluss rechnete François- Poncet, der nach dem Krieg von 1949 bis 1955 französischer Hochkommissar in Deutschland wurde, damit, „auf der Flucht“ erschossen zu werden.

François-Poncet war nie ein Mann der Résistance

Das Tagebuch schildert die Geschichte einer Gefangenschaft, die, gemessen an dem, was Menschen einander antun können, eine Luxusisolierung war: Essen, Trinken, Bücher, Rundfunkempfang, Spaziergänge, (verbotene) Kontakte mit der deutschen Bevölkerung. François-Poncet ist in der komfortablen Lage, sich beschäftigen zu müssen, um nicht zu resignieren. So rezensiert er Bücher, philosophiert und beobachtet: die Reaktionen der Einheimischen auf die Meldungen von Siegen und Niederlagen, entlarvende Äußerungen seiner Bewacher. Und er analysiert, zum Beispiel die vermuteten Hintergründe des Attentats vom 20. Juli 1944. Er schreibt über die beteiligten Offiziere: „Es ist allerdings wenig wahrscheinlich, dass sie ohne Kontaktaufnahme und ohne vorherige Absprache mit ihren Kameraden der kämpfenden Truppen agiert hätten oder diese hätten agieren lassen … So muss man zu dem Schluss kommen, dass es eine Krise im deutschen Oberkommando gibt und dass der Konflikt in eine akute Phase eingetreten ist.“

François-Poncet war nie ein Mann der Résistance, sondern ständiger Berater des Vichy-Régimes und des Marschall Pétain. Er suchte immer wieder Wege zur deutsch-französischen Annäherung. Dass er selbst seine Rolle in der Diplomatie auch im Tagebuch so und nicht anders darstellt, macht die Aufzeichnungen heute noch lesenswert. Eine Schwäche für deutsch-französisches Mit- und Gegeneinander sollte man freilich bei der Lektüre schon mitbringen.

– André François-Poncet: Tagebuch eines Gefangenen. Erinnerungen eines Jahrhundertzeugen. Europa Verlag, München 2015. 608 Seiten, 29,99 Euro.

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