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Ab dem 1. August 2013 haben Eltern erstmals einen Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung für ihre ein- bis dreijährigen Kinder.

© dpa

Familienpolitik: Krippenwahn

Der Staat, schreibt Rainer Stadler in seinem Buch über das "Märchen vom Segen der Ganztagsbetreuung", maßt sich an, der bessere Erzieher unserer Kinder zu sein. Eine Rezension

Im Jahre 2002 sorgte der gerade zum Generalsekretär der SPD gewählte Olaf Scholz mit seiner Einlassung für einen Eklat, die SPD müsse durch entsprechende Kinder- und Familienpolitik „die Lufthoheit über den Kinderbetten erobern“. Ein Aufschrei ging durch die Republik, Bischof Karl Lehmann nannte das „zynisch und rücksichtslos“ gegenüber den Familien. Verstörte Eltern fragten: Aber Überflugrechte haben wir schon noch, oder? Zwölf Jahre später ist die Verstaatlichung der Kindheit, insbesondere der Kleinkindheit, gut vorangekommen und Ideologen, Feministen und Familien- und Wirtschaftspolitiker sind einträchtig der Meinung, dass Ganztagsbetreuung eine fabelhafte Sache ist. Wer anderes formuliert oder gar fordert, gilt als hoffnungslos rückwärtsgewandt.

Das Kind als Hindernis

Nun hat sich aber doch mal wieder einer gefunden, Rainer Stadler. Ein Mann, ein Vater zweier Kinder, ein Journalist der „SZ“, der kaum als Rechtsausleger bekannt ist, entlarvt „das Märchen vom Segen der Ganztagsbetreuung“ erfrischend und faktenstark als ein solches. Kinderärzte, Bindungsforscher, Psychiater und Kinderpsychologen wissen es längst, aber Personalvorstände, Politiker jeder Couleur und Verbandsmenschen wissen es besser. Für sie ist klar: Je früher in die Krippe, desto besser. Rainer Stadler schreibt in seiner Streitschrift, „dass die Bedürfnisse des Marktes höher bewertet werden als die der Familien“, die der Kinder erst gar nicht angesprochen werden.

Was ist in diesen zwölf Jahren passiert, dass der zügige Ausbau der Ganztagsbetreuung als das Nonplusultra der Kindererziehung betrachtet wird? Zuallererst haben die Fans der Ganztagsbetreuung eine grandiose Informationspolitik betrieben, die eine schlichte Kosten-Nutzen-Idee „der Öffentlichkeit als modern, sozial und gerecht“ verkauft hat und „als Meilenstein auf dem Weg zur echten Gleichberechtigung“. Nur klingen die frühen Einlassungen etwa Bert Rürups von einer „Notwendigkeit der Mobilisierung der sogenannten stillen Reserve, Frauen mit kleinen Kindern“ oder aus dem Koalitionsvertrag von 2005 „Kinder dürfen nicht länger ein Hindernis für Beruf und Karriere sein“ weniger sozial und mitmenschlich als eben kosten-nutzen-orientiert.

Das Kind als Hindernis auch noch schriftlich festzuhalten – nichts könnte das Zerstörerische an der neuen Familienpolitik, das Stadler im Untertitel brandmarkt, besser vorführen. Es geht um die Ökonomie, die Kinder sind da im Wege, und die Familie, die sich um diese kleine Menschen selber kümmern will, ist nicht mehr als eine brachliegende Reserve für den Arbeitsmarkt. „Der Staat maßt sich an“, schreibt Stadler, „der bessere Erzieher unserer Kinder zu sein.“ Er belegt das mit Ursula von der Leyens Aufforderung, „Kinder so früh wie möglich in die Welt zu schicken, denn ein Kind brauche mehr Anregungen und Impulse, als die Mutter allein ihnen geben kann“. Abgesehen davon, dass Leyens viele Kinder auf einem Gehöft mit Ponys und Kindermädchen groß wurden, ist die Unfähigkeit der Mütter, ihren Kindern Anregungen zu vermitteln, historisch großer Unfug. Wie es überhaupt ein beliebtes Spiel der Krippenbefürworter ist, die Unfähigkeit von Müttern durch die alkoholisierte, fernsehende Prekariatsmutter mit vier Kindern von vier Vätern zu belegen. Stadler hält ihnen Howard Gardners Verdikt vor, „dass ein Kind in den ersten vier Jahren beiläufig von seinen Eltern mehr lernt als in der gesamten Schulzeit“.

„Bindung kommt vor Bildung“

Wenn wir von Krippen reden, reden wir von Aufbewahrungs- und Betreuungsorten für sehr kleine Kinder, heute durchaus auch schon halbjährigen Kindern. Die gehören nicht „in die Welt“, sondern auf den Schoß ihrer Mutter. Babys brauchen zunächst nur die vertrauten Allernächsten, um sicher gebunden zu sein und sich dann mit etwa zwei oder drei Jahren auf in die Welt zu machen. „Bindung kommt vor Bildung“, notiert der Bindungsforscher Karl-Heinz Brisch.

Man sollte Stadlers Streitschrift jedem Politiker und jedem Personaler, der die „stille Reserve“ von Müttern mit kleinen Kindern in die Arbeit zurücklocken will, zur Pflichtlektüre geben. Vielleicht würde dann mancher nicht von hoher Warte die Segnungen der Ganztagsbetreuung besingen, sondern nach dem Wohlbefinden der kleinsten Kinder fragen. Schließlich sollen weder die Mütter noch die Familienpolitiker in die Krippe, sondern Babys, Krabbel- und Kleinkinder. Von den Bedürfnissen dieser „unproduktiven“ Gruppe der Gesellschaft wird noch weniger geredet als von denen der Alten.

Nun ist es nicht so, dass Stadler sich hier irgendein Unbehagen von der Seele schreibt. Es gibt handfeste (meist staatlich geförderte) Forschung bereits aus den 80er Jahren – oft aus den USA, mit Titeln wie „Infant Day Care: Cause for Concern?“ von Jay Belsky oder die Stanford-Studie „How much is too much?“, die sich mit der Dauer des Aufenthalts in Krippen auseinandersetzt. Auch die berühmte NICHD-Studie zur Betreuung kleiner Kinder förderte zutage, dass Kinder unter 15 Monaten durchaus Schaden durch Ganztagsbetreuung nehmen können. Die Quebec-Studie bestätigte, dass „bei Krippenkindern in Kanada vermehrt Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Aggressivität diagnostiziert“ wurde.

Rainer Stadler: Vater Mutter Staat. Das Märchen vom Segen der Ganztagsbetreuung – Wie Politik und Wirtschaft die Familie zerstören. Ludwig Verlag, München 2014. 272 Seiten, 19,99 Euro.
Rainer Stadler: Vater Mutter Staat. Das Märchen vom Segen der Ganztagsbetreuung – Wie Politik und Wirtschaft die Familie zerstören. Ludwig Verlag, München 2014. 272 Seiten, 19,99 Euro.

© Ludwig

Kinder sind unsere Zukunft, heißt es wohlfeil. Auch sind sie kostbar, so kostbar freilich, dass der Staat sie nicht allein den Eltern überlassen mag. Aus der Krippennotwendigkeit für einen kleinen Teil der Kleinkinder ist schnell ein Krippenwahn geworden. Freilich ziehen immer noch viele uneinsichtig Eltern ihre Kleinsten am liebsten zu Hause groß. „Ein Kleinkind darf – außer in außergewöhnlichen Umständen – nicht von seiner Mutter getrennt werden“, zitiert Stadler aus der „UN-Erklärung der Rechte des Kindes“. Kleine Kinder brauchen Zeit, Familien brauchen Zeit. Stadler schreibt: „Kinder dürfen kein Hindernis für Beruf und Karriere sein, sagt die Bundesregierung.“ Umgekehrt wird für ihn ein Schuh draus: „Beruf und Karriere dürfen kein Hindernis für Kinder sein.“

Die Autorin ist Erziehungswissenschaftlerin und Autorin von „Mütterkriege – Werden unsere Kinder verstaatlicht?“ (Herder, 2007).

– Rainer Stadler: Vater Mutter Staat. Das Märchen vom Segen der Ganztagsbetreuung – Wie Politik und Wirtschaft die Familie zerstören.

Ludwig Verlag, München 2014. 272 Seiten, 19,99 Euro.

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