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Politik: Präsident ohne Plan

Von Clemens Wergin

Es hätten die Tage des palästinensischen Triumphes werden sollen: Nachdem der Internationale Gerichtshof den israelischen Trennzaun in Bausch und Bogen verdammt hat, debattiert nun die UNGeneralversammlung über eine Resolution, die Israel im Sinne des Richtergutachtens kritisiert. Angesichts der propalästinensischen Mehrheitsverhältnisse kann es keinen Zweifel geben, dass das UN-Parlament ultimativ den Abbau des Zaunes fordern wird.

Doch der größte außenpolitische Erfolg, den die Palästinenser in den letzten Jahren erringen konnten, wird überschattet von einer Regierungs- und Vertrauenskrise, wie sie Palästinenserführer Jassir Arafat noch nicht erlebt hat. In Gaza demonstrieren inzwischen sogar Teile seiner eigenen Fatah-Bewegung gegen den selbstherrlichen Regierungsstil des „Rais“, der gerade seinen eigenen Neffen zum neuen Sicherheitschef gemacht hat. Ehemalige Weggefährten kritisieren Arafat öffentlich und in aller Deutlichkeit. Und die Generation der 40-jährigen Politiker, die sich als Anführer der ersten Intifada Ende der 80er Jahre einen Namen gemacht haben, wollen, dass Arafat endlich den Weg frei macht für eine effektivere, weniger korrupte Regierung.

Es geht aber nicht nur darum, wer in Zukunft das Sagen hat. Besonders im Gazastreifen fordern die Palästinenser Führung ein. Der seit fast vier Jahren andauernde Terrorkampf hat den Palästinensern keinen Staat eingebracht, stattdessen aber ihre Lebensumstände drastisch verschlechtert. Nun wollen viele von Arafat wissen, wohin die Reise gehen soll. Sie suchen Orientierung.

Mohammed Dahlan, der ehemalige Sicherheitschef in Gaza, ist einer der starken Männer der nächsten Generation und einer der schärfsten Kritiker Arafats. In einem Interview mit der „New York Times“ bringt er den Frust vieler Palästinenser über die Fatah-Führung auf den Punkt: „Sie sind für die Intifada und gleichzeitig dagegen, sie sind gegen den Terror und dafür.“ Auch wenn Dahlan in Gaza gerade seinen ganz persönlichen Machtkampf mit Arafats Leuten ausficht, so ist das Gefühl doch weit verbreitet: Der Präsident hat keinen Plan.

Dass sich der Unmut über Arafat gerade jetzt entlädt, hat einen Grund. Im nächsten Jahr wollen sich die Israelis aus dem Landstreifen am Mittelmeer zurückziehen. Dann bekommt die palästinensische Autonomiebehörde eine Chance zu zeigen, dass sie das dort entstehende Machtvakuum füllen kann. Sicher, Israels Angriffe auf Einrichtungen der Autonomiebehörde haben deren Fähigkeiten sehr geschwächt, die besetzten Gebiete effektiv zu kontrollieren. Aber in den vielen Diskussionen, die zurzeit besonders im Gazastreifen geführt werden, taucht immer wieder eine Frage auf: Wie bereitet sich unsere Führung auf den Tag X vor, an dem die Israelis gehen? Bisher jedenfalls ist die Fatah im Gazastreifen mehr damit beschäftigt, interne Rivalitäten auszutragen, als eine Strategie für die Machtübernahme – auch gegen die extremistische Hamas – zu entwickeln.

Dass Arafats Getreue in Gaza nun Radio- und Fernsehstationen besetzt haben, zeigt, wie ernst die Lage für den Präsidenten ist. Und es ist eine Ironie der Geschichte, dass die beiden alten Kontrahenten, Ariel Scharon und Jassir Arafat, zur selben Zeit und aus demselben Anlass um ihr politisches Überleben kämpfen. Scharon, weil ihm die ultrarechten Parteien und manche seiner eigenen Parteifreunde von der Fahne gegangen sind wegen des geplanten Rückzugs aus Gaza. Arafat, weil er keine Strategie für die Zeit nach dem Rückzug erkennen lässt. Und die ist bitter nötig. Denn wenn es der Autonomiebehörde gelingt, Gaza zu einem Modell für die palästinensische Selbstbestimmung zu machen, dann hat sie gute Argumente, um weitere Gebiete in der Westbank von Israel zu fordern. Sollte Arafats Ehrgeiz sich aber darauf beschränken, im Chaos nur oberster König zu bleiben, dann sollte er dem Rat seines alten Weggefährten Saeb Erakat folgen: „Wenn wir unsere Verantwortung nicht schultern können, sollten wir den Weg für andere frei machen.“ Und das, bevor Gaza ganz unregierbar wird.

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