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Frankreich wählt ein neues Staatsoberhaupt.

© dpa

Präsidentschaftswahl am Sonntag: Die gespaltene Linke setzt Frankreich aufs Spiel

Links zu sein ist in Frankreich ein Bekenntnis, eine Identität. Die Rechte verkörpert alles, was die Linke verabscheut. Doch bei dieser Wahl fehlt der Wille, alles gegen den Sieg der extremen Rechten zu tun.

Frankreich hält den Atem an. Frankreich schafft sich (vielleicht) ab. Alles, was an Frankreich groß und anziehend ist, könnte am 7. Mai verloren gehen. Wenn es so käme, wäre dies auch die Schuld der französischen Linken, deren Führer es ablehnt, in der Stichwahl eindeutig Stellung zu beziehen. Jean-Luc Mélenchon spricht von der unmöglichen Wahl zwischen der „extremen Rechten“ und der „extremen Finanzbranche“. So verhindert er die Bildung einer republikanischen Einheitsfront gegen die extreme Rechte, anders als im Mai 2002.

Mélenchons Verweigerung hat eine Bresche geöffnet, in die sich Marine Le Pen sofort gestürzt hat. Sie umwirbt offensiv dessen Wählerschaft. Ihr Vater, der Parteigründer Jean-Marie Le Pen, hat Mélenchons Wahlkampf als korrekt und „würdig“ gelobt. Es kursieren Flugblätter, auf denen die programmatischen Gemeinsamkeiten aufgelistet werden. Wahlenthaltung oder ungültige Stimmzettel, wie in einigen linken Kreisen befürwortet, würden Le Pen helfen.

Den Hass auf Deutschland teilen Linke und Rechte

Dass sich die Extreme berühren, ist eine französische Redensart, die man auf der linken Seite des politischen Spektrums nicht gern hört. Die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen 2017 bietet gleichwohl Belege dafür. Der größte gemeinsame Nenner beider Lager ist die Berufung auf „le peuple“, das Volk. Gemeinsam ist den Populisten aus beiden extremen Lagern der Hass auf Europa, auf Deutschland, auf die gemeinsame Währung. Zu ihrer Schnittmenge gehört der dégagisme, ein Begriff, der mit dem Arabischen Frühling 2011 aufkam und das Abräumen des bisherigen politischen Personals meinte, samt der Strukturen, von denen dieses getragen wurde.

Dieses Verjagen hat die erste Wahlrunde bestimmt und die beiden großen Parteien des rechten und des linken Lagers zerstört. Mélenchon wie Le Pen beuten die reale soziale Misere im Land aus. Aber sie wollen die Sozialausgaben noch weiter erhöhen und das komplizierte Rentensystem ausbauen, ohne jede Rücksicht auf Finanzierbarkeit und auf die Höhe der Staatsschulden. Mélenchon will eine neue, sechste Republik begründen. In der Tat kann man die Präsidialverfassung scharf kritisieren und besonders die Funktion des Präsidenten selbst. Doch hat diese Republik nach den turbulenten Nachkriegsjahren (mit zwei Kolonialkriegen und sozialen Unruhen) Frankreich Stabilität nach innen wie nach außen beschert.

Dass Marine Le Pen Europa zerstören und den Euro abschaffen will, bedarf keiner Erklärung. Seltsam ist nur das Verhalten Mélenchons. Er hat den dynamischsten und originellsten Wahlkampf geführt, hat sich als gewinnende Persönlichkeit präsentiert, abgeklärt, kultiviert, keck, und er hat die jungen Wähler begeistert. Doch der wahre Charakter dieses neuen Chefs der französischen Linken zeigte sich, als er sich weder am Wahlabend des 23. April noch in den folgenden Tagen dazu durchringen konnte, eine Empfehlung für die zweite Runde auszusprechen, wie es französischer Tradition entspricht. In seiner Laufbahn hat er oft die Positionen gewechselt, war zunächst Trotzkist, dann Anhänger von François Mitterrand, dann Reformist mit Lionel Jospin; 1992 hat er für den Vertrag von Maastricht gestimmt (aus Treue zu Mitterrand, wie er damals sagte), und nun hat er Wahlkampf auf Seiten der extremen Linken geführt, diesmal „aus Liebe zum Vaterland“.

Mélenchon denkt schon an die Parlamentswahlen

Vor allem hegt er einen elementaren Hass auf Deutschland. Er hat ein ganzes Buch voller Vorurteile und Verachtung geschrieben: „Der Bismarck-Hering“ – Untertitel: Das deutsche Gift. Die Deutschen seien arrogant und brutal und wollten die Welt beherrschen; er glaubt, dass Wolfgang Amadeus Mozart ein Bayer war, dass die Inschrift am Reichstagsgebäude „DEM DEUTSCHEN VOLKE“ ein Bekenntnis zum völkischen Denken bedeutet und dass die Deutschen so wenig Kinder bekommen, weil sie das Leben nicht lieben.

Politisch brachte die erste Wahlrunde einen Rückfall zu der Situation von 1969, als die Sozialistische Partei mit ihrem Spitzenkandidaten Gaston Defferre nur auf fünf Prozent kam (Hamon schaffte dieses Mal etwas mehr als sechs Prozent); die Kommunisten mit Jacques Duclos an der Spitze erreichten damals 21 Prozent. Für den zweiten Wahlgang lehnte es Duclos ab, zwischen dem Zentristen Alain Poher und dem rechten Gaullisten Georges Pompidou zu wählen. Pompidou, der auch Moskau lieber war, profitierte von dieser Enthaltung.

In eine ähnliche Lage bringt Mélenchon auch die heutige Linke, mit dem Unterschied, dass die Führer der arg geschrumpften Kommunistischen Partei, die zu Mélenchons Koalition gehörten, nun zur Wahl von Macron aufrufen. Mélenchon denkt schon an die Parlamentswahlen im Juni. Er möchte auf den Trümmern der Parti Socialiste eine neue linke Partei aufbauen und anführen. Und dafür ist ihm ein Wahlsieg von Le Pen beinahe lieber; das schlimmere Übel wäre das Vorspiel zum ganz großen Umsturz.

Links zu sein ist ein Bekenntnis

Die Logik des französischen Systems zwingt dazu, im ersten Wahlgang für seinen Favoriten zu stimmen und im zweiten Wahlgang gegen jemanden, den man auf keinen Fall im Amt sehen will. Das bedeutet nicht, dass man auch das Programm der siegreichen Person in der Folge unterstützt. In diesem Sinn hat der linke Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, der zu Hamons Beratern gehörte, zur Wahl von Macron aufgerufen.

Links zu sein ist in Frankreich ein Bekenntnis, eine Identität. Die Rechte verkörpert alles, was die Linke verabscheut, und wer diesen fundamentalen Gegensatz nicht anerkennt, gilt auf keinen Fall als Linker. Doch ist die Linke seit je gespalten in Radikale und Reformer, und sie ist niemals solidarisch, gerade innerhalb der Sozialistischen Partei nicht, wie Benoît Hamon erfahren musste, der auch nicht wirklich ein Vorbild an Loyalität war. Mélenchon führt die Linke ins Lager der Identitären und Souveränisten. Indem man die Identitären und die Liberalen einander gegenüberstellt, verwandelt sich der Klassenkampf in einen kulturalistischen Gegensatz. In dieser Gemeinsamkeit berühren sich heute die extreme Linke und die neu-alte Rechte.

Den Unterschied dazu markiert die Lieblingsredensart von Emmanuel Macron: „en même temps“ – zugleich, gleichzeitig, andererseits. Man hat ihm dies als Sprachtick vorgeworfen, aber er hat die Formel trotzig beibehalten, denn er steht für die Überwindung des pseudoreligiösen Gegensatzes zwischen links und rechts. Wenn er sich durchsetzt und mit seiner Bürgerbewegung „En Marche“ (deren Name seinen Initialen entspricht) zu neuen Ufern gelangt, wäre das eine große Umwälzung in der französischen Politik.

Von Manfred Flügge, der 1946 in Dänemark geboren wurde, erschien zuletzt als E-book bei Rowohlt Rotation „Brief an einen französischen Freund“. Er lebt als Schriftsteller in Paris und Berlin.

Manfred Flügge

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