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Die Hände zum Himmel. Gegen die Durchleuchtung der eigenen Lebensverhältnisse hilft manchmal nur Beten.

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Privatheit und Privatsphäre: Offen für alle

Privatheit wird von ihren Fürsprechern vor Geheimdiensten und Internetkonzernen verteidigt, als sei sie ein universales Gut. Ist sie das wirklich? Oder nur eine Idee, die längst überholt ist?

Ein ganz normaler Tag auf Facebook, ein knappes Jahr, nachdem der britische „Guardian“ erstmals Informationen Edward Snowdens publizierte. Im Bewusstsein der Vollüberwachung veröffentlicht das aufgeklärte junge Bürgertum, Journalisten, Doktoranden, Lehrer, was es für veröffentlichenswert hält. Freundin F. hat sich einen Green Smoothie bereitet, das grünkohlbasierte Trendgetränk figurbewusster Hipster, und ihn fotografiert. Freund T. hat etwas über Michael Douglas geträumt und bittet um Deutungen. Freund S. wettert gegen jene, die in der Ukraine-Krise zu Putin halten. Sie alle, so könnte man das bösartig ausdrücken, liefern hier freiwillig Bausteine, die – das kann ja alles passieren – Geheimdiensten hilfreich sein könnten, Profile zu erstellen. Sind sie dumm? Naiv? Oder ist das hier etwas ganz anderes?

„Das ist“, sagt Julia Schramm an einem Dienstag zwei Wochen vorher und lächelt wie eine, der bereits im Alter von 28 Jahren keiner mehr was vormachen kann, „schon eine Form von Rebellion gegen zivilisatorische Triebregelungen.“ Es zeige sich nun, dass Leute durchaus öffentlich wollten, was in der Geschichte lange Zeit als privat definiert war. „Wir haben also nicht nur auf der einen Seite eine soziale, kulturelle Vorstellung und auf der anderen eine Technik, die die gefährdet, sondern auch den Willen von vielen Menschen, die sagen: Eigentlich ist mir die Privatsphäre gar nicht so wichtig wie Austausch und Kommunikation.“

Schramm hat das Ganze mit der Privatsphäre und der Öffentlichkeit en gros durchgespielt. 2011 sagte sie, damals noch Mitglied der Piratenpartei, in einem Interview mit „Spiegel Online“, Privatsphäre sei „so was von Eighties“ und im Netz schlicht nicht mehr herzustellen. Damit hatte die „Post Privacy“-Diskussion den deutschen Mainstream erreicht – und Julia Schramm, schnodderige Netz-Göre, die Hegel zitiert, wurde von der Öffentlichkeit angefeindet. Seitdem hat sie, chronische Provokateurin und erklärte „Nörgel-Linke“, immer wieder Shitstorms auf sich gezogen, Hassmails, Todesdrohungen, Nachstellungen der „Bild“-Zeitung. Sehnt sie sich nicht nach mehr Privatheit? Gerade jetzt, nachdem Edward Snowden alle romantischen Vorstellungen vom freien Netz zunichtegemacht hat? Klare Antwort: „Nöö.“ Und: „Das, was Snowden von sich gegeben hat, hat mich nicht überrascht.“ Und überhaupt: „Ich glaube, dass das Konzept Privatsphäre eine zutiefst bürgerliche Vorstellung ist, die nur der bürgerlichen Sphäre zugestanden wird.“ Und lächelt das „So ist das nun mal“-Lächeln. Aber ist es wirklich so?

Die jüngere Geschichte der Privatheit beginnt am 22. Oktober 1882. In der Rubrik „Table Gossip“ setzt der „Boston Daily Globe“ an diesem Tag seine Leser von der Verlobung der Senatorentochter Mabel Bayard mit dem Juristen Samuel D. Warren Junior in Kenntnis. Einen Tag später zieht die „Washington Post“ mit einer ebenso knappen Notiz nach. Die Hochzeit selbst ist der „New York Times“ im Januar 1883 dann sogar einen kleinen Dreispalter wert. In dem wird unter anderem darüber informiert, dass Miss Bayard eine Robe aus schwerem Satin mit gekräuselten Borten um ihre Hüften sowie eine mit Goldperlen besetzte Halskette getragen habe. Die Brautjungfern, acht an der Zahl, hätten weiße Gainsborough-Hüte und Kleider aus weißer Gaze getragen. Um vier Uhr habe das Brautpaar den Empfang verlassen, um einen Zug nach Norden zu nehmen. Samuel D. Warren, der „soziale Nachrichten, die keine öffentliche Bedeutung hatten“, schlicht „falsch“ fand, wie ein Enkelsohn Jahre nach Warrens Selbstmord im Jahr 1910 bekunden wird, fährt in ein öffentliches Leben. Insgesamt wird bis zum Jahr 1890 in den Zeitungen der Ostküste rund 60 Mal über seine prominente Schwiegerfamilie, ihre Feste und Fehltritte berichtet.

The right to be left alone

Die Vorgeschichte der jüngeren Geschichte der Privatheit beginnt in den späten 1840er Jahren, unmittelbar nach den revolutionären Geschehnissen des März 1848 in Europa. Zu dieser Zeit fährt Adolph Brandeis aus Prag in die USA. Er will sondieren, ob dort ein Ort zu finden sei, um Habsburger Enge und stärker aufkommendem Antisemitismus zu entgehen. „Amerikas Fortschritt ist ein Triumph für die Rechte der Menschen“, schreibt er begeistert an seine Frau und so kommt es, dass Louis Dembitz Brandeis im Jahr 1856 in Louisville, Kentucky, zur Welt kommt, wo sich Adolph Brandeis in der Zwischenzeit als Getreidehändler niedergelassen hat. Das Kind ist hochbegabt. Bei seinem Abschluss an der Harvard Law School Jahre später stellt Louis Brandeis einen Punkterekord auf, der über acht Jahrzehnte Bestand hat.

1890 veröffentlichen Louis Brandeis und Samuel Warren gemeinsam im Harvard Law Revue den Aufsatz „The Right to privacy“. Darin: einerseits die für eine Fachpublikation recht heftige Tirade gegen „die Presse“. Diese überschreite „in allen Richtungen die offensichtlichen Grenzen von Anstand und Benehmen“. Um Lüsternheit zu befriedigen verbreite sie Details über sexuelle Beziehungen und fülle, „um träge Menschen zu unterhalten, Kolumnen über Kolumnen mit müßigem Klatsch“, der „nur über das Eindringen in das häusliche Umfeld erlangt werden kann“. Andererseits ist da ein geschulter Blick auf den zivilisatorischen Fortschritt: „Unter dem sich verfeinernden Einfluss von Kultur sind Menschen sensibler für die Öffentlichkeit geworden, so dass Ruhe und Privatheit für den einzelnen Menschen wichtiger geworden sind.“ Diese so sensible Privatheit, befinden Warren und Brandeis, müsse geschützt werden, wie sie bisher nicht geschützt sei. Die Verfasser fordern, was bis heute als eine der Minimal- und Schlüsseldefinitionen des Privaten gehandelt wird: das Recht, allein gelassen zu werden. The right to be left alone.

Was aber macht, abgesehen von der griffigen Formulierung, gerade diesen Aufsatz so interessant und signifikant, dass ihn Forscher, die sich mit dem Begriff der Privatheit beschäftigen einmütig als „Zäsur“ bezeichnen? Allein, dass diese „sehr allgemeine Bestimmung“ den Rahmen bereitgestellt hat „nicht nur für detaillierte juridische Diskussionen, sondern auch für Definitionsbemühungen in der Philosophie“, wie Beate Rössler in ihrem 2001 erschienenen Standardwerk „Der Wert des Privaten“ befindet?

Genauso gut ließe sich auch sagen, dass sich an ihnen der moderne Diskurs um die Privatheit wie unter einem Brennglas bündelt. Zum einen sind da, repräsentiert in der transkontinentalen Vita Louis Brandeis’, gleich zwei geistesgeschichtliche Traditionen, in denen der Begriff des Privaten eine gewisse Bedeutung hat: hier jene des anglo-amerikanischen Liberalismus, in der Privatheit eng an die Idee eines Besitzes geknüpft ist, über den man frei verfügen darf; dort die Tradition des deutschen Idealismus, in der die Ausgestaltung einer irgendwie gearteten persönlichen Sphäre signifikant für die Autonomie eines Subjekts ist.

Mit den Massenmedien werden Personen öffentlich, die das nie sein wollten

Die Hände zum Himmel. Gegen die Durchleuchtung der eigenen Lebensverhältnisse hilft manchmal nur Beten.
Die Hände zum Himmel. Gegen die Durchleuchtung der eigenen Lebensverhältnisse hilft manchmal nur Beten.

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Zentraler aber ist vielleicht noch etwas anderes: Im Moment seiner Bedrohung wird von den beiden Juristen etwas ins Zentrum ihrer Überlegungen gesetzt, das noch wenige Jahrzehnte eher zweitrangig war. In der Ordnung aus Herrschenden und Untertanen diesseits und in der Weite des Raums jenseits des Atlantiks ist das Recht, sich Mitmenschen und Staat im Zweifel entziehen zu dürfen, noch vergleichsweise uninteressant. Mit der Industrialisierung kommt die Enge der Städte, mit der Emanzipation des Bürgertums das Bewusstsein für die eigenen Freiheitsrechte. Mit den Massenmedien werden auch Personen öffentlich, die das niemals sein wollten.

Mit ihrem Aufsatz antizipieren die beiden Autoren so ein Jahrhundert der bedrohten und gerade dadurch hochgeschätzten Privatheit: Nach- und miteinander dringen Telefon und Totalitarismus, Internet und Terrorangst in die Wohnstuben. Der Schutz dieser Stuben vor der weit in sie hineinragenden öffentlichen Sphäre rückt zugleich in den Gesetzbüchern und Kodizes an immer prominentere Stellen. In der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es 1948: „Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden.“

In Deutschland sichert ab 1949 das Grundgesetz nicht nur die freie Entfaltung der Persönlichkeit, aus der sich auch der Schutz der Privatsphäre ableiten lässt, sondern auch die Unverletzlichkeit der Wohnung und das Post- und Fernmeldegeheimnis. So richtig sturmerprobt ist der Text aber erst seit dem 15. Dezember 1983. An diesem Tag untersagt das Bundesverfassungsgericht eine geplante Volkszählung mit dem Verweis auf die „informationelle Selbstbestimmung“. Mit dieser sei eine Rechtsordnung nicht vereinbar, „in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß“.

Dass es in Deutschland vier Jahre später dennoch zu einer (von Protesten begleiteten) Volkszählung kommen kann, hat zum einen mit einem modifizierten Verfahren zu tun. Personenbezogene Daten werden von den Fragebögen getrennt, die Anonymität der Befragten soll besser gewährleistet sein. Dass überhaupt gezählt und nicht etwa darauf beharrt wird, dass niemand verpflichtet ist, irgendwem Informationen über seinen Aufenthaltsort, seinen Hausstand und seine Familienverhältnisse zur Verfügung zu stellen, rührt aber wohl auch daher, dass es eben bis heute keine stabile Definition dessen gibt, was und wie überhaupt privat ist. Genießt ein Individuum dann Privatheit, wenn es „für andere komplett unzugänglich ist“, wie es die israelische Juristin Ruth Gavison anmerkt? Oder stimmt, was abermals Beate Rössler genau dazu sagt: dass die Gletscherspalte, in die jemand gefallen und daraufhin ja komplett unzugänglich für andere ist, natürlich nicht privat ist?

Auch das „right to be left alone“ greift letztlich zu kurz, lässt sich doch kaum sagen, wann es mit anderen Freiheitsrechten anderer Personen kollidiert: Wie weit reicht dieses Recht, das sich trefflich mit dem dieser Tage in Bezug auf das Internet diskutierten „Recht auf Vergessen“ in Zusammenhang bringen lässt, wenn die Daten einer Person auch andere, das Gemeinwohl gar, betreffen? Wäre es nicht Barbarei, auf der Basis des Rechts auf In-Ruhe-Gelassen-Werden willkürlich das Netz zu zensieren, seine Informationen auszudünnen? Wer entscheidet da? Und wie handelt ein Staat wie die Bundesrepublik nun gerecht in Bezug auf seine Sozialfälle: Lässt er ihnen ihre Privatsphäre – und die Idee der Privatheit damit eben nicht zum Luxusgut der Bessergestellten, zur „zutiefst bürgerlichen Vorstellung“ verkommen, um noch einmal Julia Schramm zu zitieren? Oder muss er, um das Gemeinwohl vor sogenannten Sozialbetrügern zu schützen, mit Hartz-IV-Fragebögen so weit in die persönliche Sphäre vordringen, wie es kein Zensus je täte?

In Bezug auf die gegenwärtige Diskussion um Sicherheit und Privatheit in der vernetzten Welt sind normative Setzungen, die festlegen, dass privat dann ist, wenn nur wenige Menschen etwas über jemanden wissen, am wenigsten erfolgversprechend. Denn „erlischt“ Privatheit, wenn Informationen willentlich in einen unsicheren Raum gegeben werden? Sind all jene Digital Natives, die freigiebig Daten ins Netz streuen, wirklich so „post privacy“? Ja, ist Privatheit wirklich keine soziale Norm mehr, wie Facebook-Gründer Mark Zuckerberg 2010 konstatierte? Dirk Heckmann, Leiter des Sonderforschungsbereichs Privatheit an der Universität Passau, würde das bezweifeln. Glaubt man ihm, wird heute im Netz genau das ausgeübt, was Privatheit zu einem Teil ausmacht: informationelle Selbstbestimmung. „Privatheit soll ja gerade nicht bedeuten, alles einzusperren. Privatheit heißt, selber entscheiden zu können: Was kommt nach außen?“ Dies bedeute jedoch nicht, dass die flächendeckende Überwachung durch zum Beispiel die NSA legitim wäre: „Niemand weiß mehr, wer was wo über ihn gespeichert hat. Das sind verfassungswidrige Zustände.“

Wer oder was ist heute die Waffe?

Während Optimisten wie Heckmann einerseits auf die Erziehung der nachwachsenden Generationen zu mehr Medienkompetenz und darauf setzen, dass heute wie auch in den vergangenen Jahrzehnten Schutzerwartungen „rechtliche Anpassungen“ nach sich ziehen, könnte man nun in Bezug auf den Schutz der Privatheit, wie sie sich im vergangenen Jahrhundert als Gut bürgerlicher Gesellschaften etabliert hat, getrost auch alle Hoffnung fahren lassen. Denn dass es globale No-Spy-Abkommen in absehbarer Zeit geben wird, erscheint ebenso unwahrscheinlich wie ihre Einhaltung, wenn es sie denn gäbe. Oder?

Ein anderer Tag auf Facebook. Gleich mehrere Freunde haben den Link zu einem Artikel geteilt, den die Schriftstellerin Juli Zeh in der „FAZ“ veröffentlicht hat. In „Letzte Ausfahrt Europa“ heißt es unter anderem: „Weil sich die digitale Revolution nicht an Landesgrenzen hält, muss auch die begleitende Gesetzgebung supranational sein.“ Und weiter: „Eine Institution, welche die dazu erforderliche legislative und politische Macht besitzt, ist die Europäische Union.“ Deren „Datenschutz-Grundverordnung“, die nicht zuletzt aufgrund des deutschen Widerstands noch eine geplante sei, beweise, „dass es sehr wohl möglich wäre, etwas zu tun“. Im weiteren Verlauf ist davon die Rede, dass die Verordnung auch auf Unternehmen wirken solle, die ihren Sitz außerhalb der EU hätten. Und über die dann unter anderem wieder auf die Geheimdienste, die ja nicht zuletzt vom Daten-Outsourcing privater Unternehmen leben. „Wenn du den Baum nicht fällen kannst, grab ihm das Wasser ab.“

Das also scheinen derzeit die Alternativen: die gänzlich „neue Form von Privatsphäre“, von der Julia Schramm redet; die, bei der man mit der Prämisse ins Netz geht, „dass alles, was ich schreibe, jederzeit irgendwo erscheinen können muss – und ich muss dazu stehen können“. Oder der Kampf für den Schutz einer vordigital entstandenen Vorstellung von Privatheit im digitalen Raum; einer, bei der die unendliche Reproduzierbarkeit im Virtuellen künstlich beschränkt wird, um den Urhebern Kontrolle zurückzugeben. Die zweite Variante scheint kleiner, konservativer, weniger kulturrevolutionär. Andererseits gilt auch, was schon Warren und Brandeis schrieben: dass, wer stillschweigend duldet, was er verurteilt, und eine Waffe zur Verteidigung in der Hand hat, auch für das Resultat verantwortlich ist. Die Frage ist nun: Was ist hier und heute die Waffe, wenn nicht Gesetze?

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