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Jürgen Micksch war bis 2012 Vorsitzender von Pro Asyl.

© dpa

Pro Asyl - eine Idee setzt sich durch: Hier im Paradies

Als vor 30 Jahren Westdeutschland massiv gegen die „Flüchtlingsschwemme“ aufbegehrte, gründete Jürgen Micksch den Verein Pro Asyl. Viel Unterstützung hatte er dabei nicht, auch nicht von den Kirchen.

Die Nachrichten, die ihn aufrüttelten: Dass Flüchtlinge dezentral untergebracht werden sollten, in Dörfern statt in städtischen Sammellagern, aber wann immer so ein dezentraler Platz genannt wurde, begehrten dort die Anwohner auf, protestierten oder sammelten Unterschriften, Wohnungsbaugesellschaften erwirkten einstweilige Verfügungen gegen Belegungsvorhaben der Politik, und einmal stellten sich die Bewohner eines Dorfes gar quer auf die Straße, so dass die Busse mit den Flüchtlingen nicht bis zu ihnen in den Ort kamen.

Ein Wort setzte sich durch: Asylant

Was klingt wie aktuelle Geschichten aus dem Osten Deutschlands sind welche aus West-Deutschland, und sie sind 30 Jahre alt. Flüchtlinge wurden „Asylant“ genannt, und seit 1980 erstmals mehr als 100 000 von ihnen gezählt worden waren, sprach man von einer „Asylantenschwemme“.

Jürgen Micksch, damals Mitte 40, der in Frankfurt am Main Ausländerreferent der Evangelischen Kirche Deutschlands gewesen war und seit einem Jahr nun Vize-Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing in Bayern, fiel neben der weitreichenden und weitgehend unwidersprochenen Abwehrhaltung auch auf, dass es zwar einige lokale Grüppchen gab, die sich für Flüchtlinge engagierten, Menschen aus der linksalternativen Szene, die der Politik wie auch der Mehrheitsgesellschaft gemeinhin ein Graus waren, aber es existierte keine Stimme, die das auf Bundesebene tat. „Es gab so etwas nicht.“ Das wollte er ändern. Er wollte einen deutschen Flüchtlingsrat einrichten.

Der katholische Kollege riet: Vergessen Sie's!

Als Erstes besprach er sich mit einem katholischen Kollegen, der ihm umstandslos riet: „Vergessen Sie’s!“ Aber Micksch war überzeugt, „wir brauchen das“. Er suchte und fand andere Verbündete, in der Ausländerarbeit, bei der Gesellschaft für bedrohte Völker, der Diakonie und mit dem FDP-Mann Burkhard Hirsch sogar einen in der Politik. Ein Treffen fand statt, das allen um die Ohren flog. „Es gab so viel Streit“, erinnert sich Micksch mit leichtem Schaudern, jeder gegen jeden.

Kurz darauf bekam er Post: von der Caritas eine Warnung. Er solle seinen Plan aufgeben, die Zeit sei nicht reif, er würde mit so etwas nur die Politik verärgern. Vom Diakonischen Werk die Mitteilung, man werde ihn nicht unterstützen.

Micksch war auch das egal. Mit den verbliebenen Mitstreitern gab es in Frankfurt am Main ein zweites Treffen, diesmal kam es zur Einigung. Die Bundesstimme für Flüchtlinge erklang, sie brauchte nur noch einen Namen, und den lieferte ein hingeschleuderter Einfall des Chefs der Gesellschaft für bedrohte Völker: „Pro Asyl oder so.“

„Ich gab ihm zehn Pfennig für seine Idee“, erinnert sich Micksch und lacht, „damit bin ich bis heute Besitzer des Namens.“

Heute ist Pro Asyl ein Großlobbyist der Stimmenlosen

Heute ist Pro Asyl der Großlobbyist in Sachen Flüchtlingspolitik: Vertreter derjenigen, die keine politische Stimme haben und damit auch kein Gewicht. Es wurde ein Förderverein gegründet, der 17 000 zahlende Mitglieder hat, dessen Vorsitzender Micksch lange Jahre war, bis er sich 2012 auf einen Ehrenposten zurückzog und seinen vielen anderen menschlichkeitkeitsfördernden Projekten widmete. Am ehesten erreicht man ihn – einen freundlichen, emphatischen Mann mit inzwischen schlohweißem Haar – in seinem Büro beim „Interkulturellen Rat“ in Darmstadt, 1994 ebenfalls von ihm selbst gegründet, ein Verein, der Runde Tische gegen Fremdenfeindlichkeit, Konferenzen und Tagungen organisiert, Broschüren mit Argumentationshilfen verteilt und die „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ veranstaltet.

Wo sich wenig geändert hat? In der Politik

Die Politik bestand und besteht auf Abwehr, 1998 sprach der damalige Bundesinnenminister Otto Schily von überschrittenen Belastungsgrenzen.
Die Politik bestand und besteht auf Abwehr, 1998 sprach der damalige Bundesinnenminister Otto Schily von überschrittenen Belastungsgrenzen.

© imago

Angesichts der aktuellen Bilder aus dem Mittelmeer sagt er, er sei nahezu erleichtert, diesen Abstand zu haben, „sonst bekäme ich Depressionen.“ Wegen der vielen toten Menschen, aber auch wegen der Politik. Denn in einem Punkt habe sich in der Tat nahezu nichts geändert seit er vor 30 Jahren Pro Asyl erfand: in der Abwehrhaltung der Länder. „Kleinigkeiten werden geändert, aber Europa bleibt eine Festung“, sagt Micksch. Eine unsinnige Haltung seiner Meinung nach, die die Realität verkennt, denn „die Zahl der Flüchtlinge wird zunehmen.“ In weiteren islamischen und afrikanischen Länder werde sich die Lage verschlechtern, ob politisch oder wirtschaftlich, sodass weitere Menschen ihr Heil in der Flucht suchen würden.

Europa trägt an manchem Elend in der Welt Verantwortung

Und an manchem Elendsszenario trage Europa eine Mitverantwortung, Beispiel Überfischung der Meere, Unterstützung von Diktaturen. Wenn die EU jetzt bei ihrem Sondergipfel neben mehr Seenotrettung auch beschloss, die Fluchtursachen in den Herkunftsländern anzugehen, sei das richtig, „die EU muss in diese Richtung wirken“, aber es brauche Ausdauer und Geduld – Eigenschaften, die der Politik mit ihrem Blick auf den vergleichsweise kurzatmigen Wiederwahlturnus wesensfremd zu sein scheinen.

Und so spielt sich die Suche nach Lösungen für die Flüchtlingsdramen immer ab auf einem äußerst schmalen Grad, weil sie das unverhandelbare Menschenrecht des Einzelnen eben doch verhandelt. Debatten um den Nutzen von Menschen wirken schnell zynisch. Aber was anderes als Verhandeln soll man machen?

Micksch erinnert sich an die Anfänge von Pro Asyl, als die Sprachlosigkeit noch viel größer gewesen sei. Wie die Politik ihre Vorbehalte gegen die Flüchtlingsaktivisten hochhielt, hätten die umgekehrt auch ihre Vorbehalte gegen „die Politik“ gepflegt.

Das Echo war verheerend

Damit über die Pro-Asyl-Gründung überhaupt berichtet wurde, sei er, sagt Micksch, persönlich in die Redaktionen von „Frankfurter Allgemeiner Zeitung“ und „Frankfurter Rundschau“ gegangen. Immerhin: Es seien in beiden Zeitungen dann „Fünfzeiler“ erschienen.

Das Echo war zunächst verheerend. Der Rat der EKD rief Micksch auf, Schluss mit Pro Asyl zu machen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtsverbände untersagte sämtlichen Mitarbeitern, sich für Pro Asyl zu engagieren. Ein Antrag beim Bundesinnenministerium auf Förderung wurde, so erinnert sich Micksch, mit dem Kommentar abgelehnt, man werde wohl kaum seine „Feinde“ unterstützen. Von Provinzpolitikern sei Pro Asyl ständig angegriffen worden. „Soweit wir politisch wahrgenommen wurden, gab es Gegenwind, und zwar aus allen Parteien.“ Das änderte sich erst mit den Grünen. Was sie eigentlich wollten, wurden sie gefragt: etwa noch mehr Flüchtlinge?

Sie wollten die Gesetze entschärfen, das Gegenteil geschah

Und, was wollten sie? An die ersten Themen erinnert Micksch sich gar nicht mehr. Sie wollten, dass nicht mehr Asylant gesagt wird. Nicht mehr Scheinasylant. Nicht mehr Schmarotzer. Sie wollten, dass die besonders restriktiven Vorschriften des ersten Asylverfahrensgesetzes von 1982 gemildert würden, die Gemeinschaftsunterkünfte, Einkaufsgutscheine statt Geld und eine strenge Residenzpflicht vorsahen, und mussten zunächst aber zusehen, wie die Gesetze immer noch restriktiver wurden.

1987 wurde das Asylverfahrensgesetz so umgeschrieben, dass es vor allem auf die Verwehrung zielte. Die Anerkennungsquote sank unter zehn Prozent, aber das blieb nicht unwidersprochen: Das Bundesverfassungsgericht verlangte 1990 eine erneute Reform. Pro Asyl startet eine große Kampagne für die Beibehaltung des Asylrechts nach Artikel 16 des Grundgesetzes: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, eine Reaktion auf die Flüchtlingsströme, die Nazi-Deutschland ausgelöst hatte, und gleichzeitig veranstalteten Teile der Bevölkerung die Pogrome von Hoyerswerda, Mölln, Rostock-Lichtenhagen. In der „Welt“ sagt der Historiker Golo Mann den danach noch oft wiederholten Satz „Das Boot ist voll.“ Die Bundeszentrale für politische Bildung beschreibt die Zeit damals so: „1993 stammten 72,1 Prozent der Flüchtlinge aus Europa und vor allem aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Aber der Kalte Krieg war vorbei. Flüchtlinge – zumal in Massen – waren nicht mehr Erfolgsnachweis in der globalen Systemkonkurrenz, sondern Zusatzbelastung in der Krise des nationalen Sozialstaats.“

Wo sich viel geändert hat? In der Bevölkerung

Lobbyismus für Flüchtlinge, hier eine Demonstration aus Berlin
Lobbyismus für Flüchtlinge, hier eine Demonstration aus Berlin

© imago

1993 gingen mehr als 300 000 Asylanträge ein und der so genannte „Asylkompromiss“ wurde Gesetz. Er enthielt die Drittstaatenregelung, die bis heute Menschen Asyl verwehrt, die über sichere Drittstaaten einreisen. Pro Asyl beginnt mit der Dokumentation von Einzelfällen und strengt Musterklagen an.

Wie sehr der Einzelfall vom allgemeinen Bild abweichen kann, hat Jürgen Micksch einmal sehr eindrücklich erlebt. Als in Tutzing, dem Sitz der Evangelischen Akademie, Flüchtlinge untergebracht werden sollten, Palästinenser, kam es auch dort zu Anwohnerprotesten. Micksch organisierte ein Treffen. Bürger sollten kommen und auch Flüchtlinge. Er ließ sie mit Hilfe von Übersetzern über ihre Fluchtgründe berichten. Vom Elend, in dem sie lebten, von ihrer Arbeits- und Heimatlosigkeit und der Gewalt, der sie ausgesetzt waren. Die Bürger blieben skeptisch, könnte ja alles gelogen sein. Ein Vater erzählte von seinem Sohn, dem in den Fuß geschossen worden sei, der Junge stand neben ihm. „Zeig mal“, sagte der Vater. Da krempelte der Junge sein Hosenbein hoch und zog den Schuh aus. Und die Bürger sahen die Wunde.

Aus dem Störenfried wurde ein Mensch in Not

„Das hat die Stimmung im ganzen Ort verändert“, erinnert sich Micksch. Auf einen Schlag. Die Bürger glaubten die schlimmen Geschichten nun und wollten helfen. Sie sammelten Spielzeug und Kleidung für die Neuankömmlinge, sie sahen in ihnen die in Not geratenen Menschen, nicht länger die Bedrohung, den Störenfried.

Auch Micksch selbst hat etwas dazugelernt. Als 1980 die Flüchtlingszahl erstmals über 100 000 sprang, habe er selbst noch gedacht, das sei nicht verkraftbar. Das würden die Deutschen nicht mitmachen. Zunächst lag er damit auch richtig, aber später „ist in der Bevölkerung unglaublich viel Positives passiert“, sagt er. Überall gibt es heute Initiativen von Bürgern, die den Flüchtlingen helfen, die in die Heime gehen und Sprachkurse anbieten, die mit den Kindern Fußball spielen oder Kleider abgeben. Micksch ist solchen Landsleuten dankbar, er nennt sie „europaweit beispielgebend“.

Und die Politik habe in der Zwischenzeit zumindest erkannt, dass sie die Zivilgesellschaft ernst nehmen und einbeziehen müsse in ihre Entscheidungsfindungen. Die lokalen Flüchtlingsräte hätten heute wie selbstverständlich Kontakte zu den Landesregierungen. Daran sei in den Anfangszeiten nicht zu denken gewesen. Als Pro Asyl einen ersten Termin im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge haben wollte, sei es auf allen Seiten zu Entsetzensschreien gekommen.

Eine Geschichte verfolgt ihn bis heute

Einmal aber hat auch Micksch einem inneren Abwehrimpuls nachgegeben. Es ist eine Geschichte, die ihn bis heute verfolgt. Es war Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre, und unter den Asylbewerbern gab es eine Gruppe indischer Offiziere, die ihm wegen ihres rabiaten Auftretens unsympathisch war. Damals saß Günther Beckstein als Staatssekretär im bayerischen Innenministerium. Beckstein habe ihm versprochen, sagt Micksch, dass er bei zweifelhaften Ablehnungsbescheiden einen vierwöchigen Aufschub erwirken könne, um erneut zu prüfen. Als dann einer der Offiziere abgelehnt wurde und darüber in Verzweiflung geriet, weil man ihn in Indien töten würde, glaubte Micksch ihm nicht. Er glaubte ihm nicht, weil er ihn nicht mochte. Der Offizier musste ausreisen, und zwei Wochen später sprach sich herum, dass er tatsächlich erschossen worden war. Micksch versagt, wenn er davon erzählt, bis heute die Stimme.

Eine falsche Entscheidung kostete womöglich ein Menschenleben. Eine von wie vielen? Und wie vielen wird hier bis heute nachgetrauert?

Die Rhetorik wird wieder schärfer

Seit die Flüchtlingszahlen wieder steigen, tost auch die Abwehrrhetorik wieder auf allen Kanälen. Aus „Wer unser Gastrecht missbraucht, für den gibt es nur eins: raus, und zwar schnell“, Bundeskanzler Gerhard Schröder, SPD, 1997, und „Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderung ist überschritten“, Bundesinnenminister Otto Schily, SPD, 1998, wurden „Wer betrügt, der fliegt“ und „Wir sind nicht das Sozialamt der Welt“, zwei Mal Horst Seehofer, CSU, 2013 und 2015. Dazwischen ertönten die nationalkonservativen Parolen der AfD, Thilo Sarrazin und Pegida.

"Flüchtlinge werden das Jahrhundertthema"

Ein Schiff wird kommen: Flüchtlinge demonstrieren 2015 in Rom für mehr Seenotrettungseinsätze im Mittelmeer.
Ein Schiff wird kommen: Flüchtlinge demonstrieren 2015 in Rom für mehr Seenotrettungseinsätze im Mittelmeer.

© AFP

Ein Unterschied aber auch hier:  Seit dem Bekanntwerden der Mordserie der Terrorgruppe NSU sei akzeptiert, dass es Rassismus in Deutschland gebe. Das sei lange Jahre davor stets verneint worden. Micksch macht das an der von ihm seit 1995 veranstalteten „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ fest. An denen habe anfangs kaum jemand teilnehmen wollen, weil es ja gar keinen Rassismus gebe.

Das Ministerium strich das Wort "Rassismus" aus den Papieren

Und als Micksch mit einer Arbeitsgruppe, die beim Bundesinnenministerium angesiedelt war, Erklärungen zum Thema Rassismus herausgab, da strich das Ministerium das Wort „Rassismus“ aus sämtlichen Texten und ersetzte es durch „Ausländerfeindlichkeit“. Dass es die gab, war unbestritten.

Also mehr Engagement der Zivilgesellschaft, mehr Bewusstsein für die Nöte der Flüchtlinge, seit diesem Jahr ein entschärftes Asylgesetz, das die Residenzpflicht beschränkt, Geld statt Sachleistung vorsieht sowie Arbeitsverbote lockert, insgesamt mehr Ehrlichkeit vielleicht über die eigenen Motive auf der einen Seite. Und auf der anderen?

Niemand wird sich wegducken können

Zuletzt machte Pro Asyl auf die unhaltbaren Zustände in griechischen und bulgarischen Flüchtlingslagern aufmerksam, Italien will nicht allein für die Mittelmeerflüchtlinge zuständig sein, Großbritannien will dafür Geld geben, aber keine Asylbewerber aufnehmen. Jeder macht nur, was er nicht abwehren kann. Zukunftsfähig ist das kaum. Micksch sagt: „Flüchtlinge werden das Jahrhundertthema.“ Niemand wird sich wegducken können.

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