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Proteste gegen Castortransport: Schotterer kommen zum Zug

Tausende Castorgegner versuchen, Steine aus den Gleisbetten zu entfernen – und geraten in heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Der Anruf kommt am späten Samstagabend. „Die Schotterer gehen um viertel vor fünf in Metzingen los“, sagt ein Mann am Telefon. Er nennt einen Treffpunkt für Journalisten, die die Teilnehmer der im Vorfeld heftig umstrittenen Aktion begleiten wollen. „Wenn wir es schaffen, für 15 Minuten auf die Schienen zu kommen, können wir so viele Schottersteine wegräumen, dass der Atommüllzug nicht mehr passieren kann“, haben die Schotterer als ihr Ziel definiert.

Die Nacht im Wendland ist schwarz und kalt, die Scheiben der Autos sind zugefroren, auf den Feldern bei Dannenberg zucken die Blaulichter endloser Polizeikarawanen. Im Finstern und fröstelnd, hat ein Dutzend Reporter zwei Pressesprecher der Initiative „Castor schottern“ umringt. Wegen der Verzögerungen im Castorfahrplan, der Zug hat grade Göttingen passiert, wollen die Aktivisten nun doch erst um acht Uhr in Govelin starten.

Als es hell wird, ist das kleine Dörfchen bereits weiträumig von der Polizei abgesperrt. Nur wer eine extra Presseakkreditierung der Einsatzleitung hat, darf auf der schmalen Zufahrtsstraße passieren. Wie in einer Schlachtszene aus einem Historienfilm, kommen von einem nahen Hügel plötzlich hunderte Demonstranten durch den Morgennebel angerannt. Sie werden von einer Gruppe Polizisten verfolgt, in ihrer schweren Ausrüstung können die Beamten die Atomkraftgegner aber nicht einholen. Auch aus anderen Richtungen gelangen Castorgegner über Felder und auf kleinen Wegen nach Govelin, rund 2000 Protestler drängen sich schließlich auf einem Hof. Fast alle tragen Rucksäcke, einige auch kleine Strohsäcke oder Isomatten mit sich. In ihren Camps haben sich die Schotterer auf ihr Vorgehen verständigt. In vier Gruppen wollen sie sich der Bahnstrecke nähern. In jeder Gruppe gibt es aktive Steineausbuddler und „Beschützer“. Fahnenträger führen die verschiedenen Gruppen an. Die Journalisten sollen sich hinter dem blau-gelben Banner sammeln. Hier läuft auch die Bundestagsabgeordnete der Linken, Kornelia Möller, mit. „Ich bin als Zeugin und Beobachterin hier“, erklärt sie. Selber mitschottern will sie nicht.

Laute Sprechchöre hallen durch den Wald. Ab und zu entzündet jemand einen Böller. Ein Teil der Demonstranten ist vermummt. Als über ein Megafon durchgesagt wird, dass sich auch vom Norden tausende Castorgegner den Schienen nähern, bricht Jubel aus. Nach einstündigem Fußmarsch über teils matschige Waldwege erreicht der blau-gelbe Trupp als erster die Böschung vor dem Castorgleis. Dort ist eine Polizeikette postiert. Ohne Vorgeplänkel prallen die Kontrahenten aufeinander. Die Beamten setzen Schlagstöcke und Reizgas ein, Demonstranten werfen mit Stöcken und Feuerwerkskörpern.

„Wir sind angegriffen worden“, erklären beide Seiten später fast wortgleich gegenüber der Presse. Die Polizei drängt die Atomkraftgegner an den Waldrand zurück. Die Demonstranten verteilen sich, besetzen nun den ganzen Hang, einige schaffen es für kurze Zeit bis auf das Gleis, bevor sie von dort wieder vertrieben werden. Erneut fliegen kleine Äste auf die Einsatzkräfte. Beamte verschießen Tränengaskartuschen, im gesamten Gelände breitet sich beißender Rauch aus. Eine Frau hat eine blutende Wunde am Kopf, Demonstranten spülen einander die tränenden Augen mit Wasser aus. Über Stunden brechen immer wieder Scharmützel aus. Als Vermummte mehrere Barrikaden aus Schwachholz auftürmen und in Brand setzen, kommt ein Wasserwerfer zum Einsatz. Auch berittene Polizisten gehen gegen die Schotterer vor. Dicht über den Baumwipfeln steht ein Hubschrauber in der Luft.

Am Nachmittag muss sich die Polizei noch um weitere Brennpunkte kümmern. Bei Harlingen halten rund 1200 Aktivisten die Schienen besetzt, sie sind einem Aufruf der wendländischen Initiative „Widersetzen“ gefolgt. Auch niedersächsische Landtagsabgeordnete der Linken blockieren hier mit. Die Gruppe „X-tausendmal quer“ beginnt mit ebenfalls mehr als tausend Teilnehmern eine Sitzblockade auf der Zufahrtsstraße zum Gorlebener Zwischenlager. Und auch die Schotterer haben noch nicht genug. Bei Grünhagen und Pommoissel machen sie sich für längere Zeit an den Gleisen zu schaffen und räumen auf einer Breite von rund 80 Metern Steine unter den Schienen weg. Bei den folgenden Auseinandersetzungen mit der Polizei wird erneut eine Frau verletzt.

Auch die atomkraftkritischen Bauern greifen am Nachmittag in das Geschehen ein. Mit ihren Traktoren blockieren sie mehrere Bundes- und Kreisstraßen. Sie wollen verhindern, dass die Polizei Einheiten zu Gleisabschnitten verlegt, an denen sich die Schotterer zu schaffen machen.

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