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Küken waren der Anfang. Wegen einer falschen Lieferung wurde das Huhn zum Fleischlieferanten.

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Proteste gegen das Freihandelsabkommen TTIP: Wenn der Hahn nach dem Chlorhuhn kräht

Das Chlorhuhn ist eine Art Wappentier der TTIP-Gegner, die am 11. Oktober europaweit demonstrieren wollen. Es steht für ein unsolides, gefährliches Amerika. Wie konnte ein gemeines Federvieh es soweit bringen?

Es war das Jahr 1923, mitten in den Roaring Twenties, als in den Musikclubs der großen Städte neuerdings Jazz gespielt wurde und man in New York das Empire State Building im modernen Art-déco-Stil plante, da bestellte die sparsame Farmersfrau Mrs. Cecile Steele aus dem Örtchen Ocean View im US-Bundestaat Delaware wie jedes Jahr bei einer Kaufhauskette 50 Küken, mit denen sie ihren Bestand an Legehennen für die Eierproduktion auffüllen wollte. Doch geliefert wurden 500.

Es war ein Irrtum, der zum Grundstein der amerikanischen Hühnerproduktion werden sollte. Denn Mrs. Steele, laut Überlieferung von bemerkenswertem Charakter und mit feuerrotem Haar ausgestattet, machte aus den viel zu vielen Küken, die sie nicht zurückschicken konnte, ein Geschäft. Sie entschied sich, die kleinen Vögelchen selbst aufzuziehen. Vier Monate später verkaufte sie die Tiere an eine Schlachterei im nahen Philadelphia für 62 Cent pro Pfund, das wären heute etwa fünf Dollar. Zum Vergleich: Aktuell kostet ein Pfund Hühnerfleisch etwa 1,55 Dollar.

Die Geflügelbranche macht jährlich einen Umsatz von 70 Milliarden US-Dollar

Im Jahr darauf orderte Mrs. Steele 1000 Hühner, und vier Jahre später fassten die Ställe der Steele-Farm bereits 25.000 Vögel. Andere Landwirte folgten ihrem Vorbild. Vielen von ihnen verschaffte die beginnende Hühnerwirtschaft in den Zeiten der wirtschaftlichen Depression, die Ende der 20er Jahre beginnen sollte, ein Auskommen. So begann damals die Umwertung des Huhns in der Nahrungskette des Menschen vom Eier- zum Fleischlieferanten. Heute, gut 90 Jahre später, wird in den USA mehr Hühnerfleisch konsumiert als irgendwo sonst auf der Welt: Neun Milliarden Hühner werden dort pro Jahr geschlachtet – nur in Brasilien sind es mehr –, die Branche fährt einen Jahresumsatz von 70 Milliarden US-Dollar pro Jahr ein.

Diese Riesenziffern allein könnten diesseits des Atlantiks schon Angst machen. Aber die entzündete sich im Rahmen der im Juli 2013 begonnenen Verhandlungen über die „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“, kurz: TTIP, an der Reinigung des Fleisches mithilfe von Chlordioxid. Das Huhn aus dem Chlorbad wurde zum Chlorhuhn, und das Chlorhuhn wurde im Laufe des Streits um das ganze große TTIP-Abkommen mit seinen ungezählten Ungereimtheiten, mit seiner Geheimdiplomatie und der daraus resultierenden Verunsicherung vieler Bürger zum Wappentier der Gegner, die heute europaweit und vielerorts auch in Berlin demonstrieren wollen. Dass die EU-Kommission sich bereits gegen die Einfuhrerlaubnis für chlorgewaschenes Geflügel entschieden hat, änderte daran nichts mehr.

"Poultry Production" ist in den USA ein Studiengang - mit Zukunft

Die Herstellung von Geflügelfleisch kann man heute studieren, und es ist ein Studiengang mit Zukunft. An der University of Georgia in der Kleinstadt Athens, knapp 120 Kilometer östlich von Atlanta, leitet Professor Michael Lacy das Institut für Geflügelwissenschaften. Mit 20 Lehrkräften und 70 Studenten ist es das größte von sechs seiner Art in den USA. Etwas außerhalb des Campus, hinter glitzernden Futtersilos erstreckt sich auf 80 000 Quadratmetern ein sanfthügeliges Gelände mit 14 Hallen, darin befinden sich Bruthäuser, Mastställe, Labors, Klassenräume und eine Modellfabrik, in der Studenten auf kleinem Maßstab die Schritte der industriellen Hühnerproduktion erlernen können.

„Wir haben hier die gesamte Kette der Geflügelproduktion vertreten, von der Zucht über Schlachtung und Kühlung bis zur Verpackung“, sagt Lacy, 62, ein drahtiger Mann mit grauem Haarschopf und sonnengegerbter Haut, während er an der Schlachtstraße entlangschlendert, deren Maschinen an diesem Tag stillstehen. Etwa 1000 Hühner könnten hier theoretisch pro Tag verarbeitet werden, das käme aber fast nie vor. Eine gewerbliche Geflügelfabrik in den USA verarbeitet im Schnitt 140 Vögel pro Minute.

Europa wettert gegen Chlor - und duldet hohe Salmonellenwerte

Weniger rosig, weniger dick: Im Institut für Geflügelwissenschaften hängen zu Vergleichszwecken ein Chlorhuhn (links) und sein EU-Pendant nebeneinander.
Weniger rosig, weniger dick: Im Institut für Geflügelwissenschaften hängen zu Vergleichszwecken ein Chlorhuhn (links) und sein EU-Pendant nebeneinander.

© Katja Ridderbusch

Auch für Lacys Kollegen Scott Russell ist die Welt der Hühner ein „wissenschaftliches Wunderland“. Russell, 49, groß, mit Bürstenhaar und Baseballkappe, ist Mikrobiologe; er beschäftigt sich mit Bakterien auf Geflügelkörpern, mit alldem also, was das Chlorbad ausmerzen soll.

Die hitzige Debatte um Chlorzusätze bei der Reinigung von Geflügelfleisch ist ihm vertraut, seit die EU im Jahr 1997 die Einfuhr von chemisch gewaschenem Geflügel verboten hat und seit die Amerikaner 2009 vor der Welthandelsorganisation WTO Klage gegen das Importverbot einreichten.

Europäer und Amerikaner verfolgten eben unterschiedliche Ansätze bei der Dekontamination von Geflügel, sagt der Wissenschaftler. „Europäer versuchen bereits während der Aufzucht der Tiere, Infektionen möglichst zu vermeiden, also im Vorfeld der Schlachtung und Verarbeitung.“ Aber das sei teuer und aufwendig. In den USA setze die Branche dagegen eher darauf, während der Reinigung, Verarbeitung und Kühlung durch Zugabe chemischer Stoffe – neben Chlordioxid immer häufiger auch Peressigsäure, eine Mischung aus Essigsäure und Wasserstoffperoxid – die krankheitserregenden Mikroorganismen auf den Geflügelkörpern abzutöten. Dabei geht es vor allem um Salmonellen und Campylobacter, den wohl gängigsten Erreger von Brechdurchfällen beim Menschen.

Die britischen Behörden mahnen zu Vorsicht: beim Umgang mit EU-Hühnern

Die Salmonellenbelastung von Hühnerfleisch liege in den USA und Europa etwa gleichauf bei fünf bis acht Prozent, sagt Russell. Bei Campylobakter sehe es anders aus: In bis zu 76 Prozent des Hühnerfleisches, das in Europa in die Läden kommt, seien die Organismen nachzuweisen. Erst vor wenigen Wochen wies die britische Behörde für Nahrungsmittelsicherheit darauf hin, dass Campylobacter-Keime in vier von fünf Fällen über Geflügel übertragen würden und rief zu besonderer Umsicht im Umgang auf. In den USA sind Russell zufolge nur knapp elf Prozent des Fleisches mit den Keimen belastet. Dank Chlorbad. Dass es nun also ausgerechnet das ist, was die europäischen Gemüter erregt, findet Scott Russell erstaunlich. Auch Michaell Lacy wundert sich manchmal über das Ausmaß des europäischen Unmuts. „Natürlich sprechen wir mit den Studenten über die Debatte in Europa“, sagt er. Und es gebe sicher eine ganze Reihe von Aspekten in der hochindustrialisierten Hühnerproduktion, die man kritisch diskutieren könne. Aber das Chlorbad? „Mein persönlicher Eindruck ist, dass Europäer grundsätzlich sensibler sind, was die Nutzung von Chemikalien angeht.“ Mit seinen Studenten spreche er jedoch vor allem „über die wissenschaftlichen Aspekte, nicht über Handelsfragen, nicht über Ängste oder über kulturelle Unterschiede“.

Wissenschaftlich ist das Chlorhuhn inzwischen rehabilitiert, sogar in Deutschland: Das Bundesinstitut für Risikobewertung betonte vor kurzem, dass die Verwendung von Chlordioxid in der für die Reinigung von Geflügelfleisch üblichen, geringen Konzentration gesundheitlich unbedenklich sei.

Es geht den Europäern auch um Haltungsstandards

Aber den europäischen Verbraucherschützern geht es nicht nur um die Gesundheit. Sie befürchten auch ein Aufweichen der hygienischen und ethischen Standards in der Massentierhaltung: Wenn das Geflügel nach der Schlachtung in ein Chlorbad getaucht wird, wozu vorher noch eine hygienischere und damit auch kostenintensivere Haltung gewährleisten?

Die Studenten der Universität von Georgia lernen an diesem Tag noch einen anderen transatlantischen Unterschied bei der Geflügelproduktion kennen: die Kühlung. Amerikaner kühlen ihr Geflügel in riesigen Eiswassertanks mit, klar: Chlordioxid-Zusatz. Europäer kühlen Geflügel in Kaltluft und ohne Chemie.

Die Studenten der Geflügelwissenschaften üben ihre Fertigkeiten an geköpften, gerupften und ausgeweideten Hühnerleichen. Eines der Studienobjekte, so sagt es ein weißes Bändchen am Bein, ist Nummer 134. Es steht in einem gekachelten Raum, unter dem eisigen Gebläse einer brummenden Klimaanlage, aufgereiht neben 15 seiner Artgenossen auf einem sterilen Metalltablett, aufgespießt auf einem kegelartigen Ständer – und bereit, von den Studenten in seine Einzelteile zerlegt zu werden.

Nummer 134 ist ein echtes Chlorhuhn und ein prachtvolles Exemplar noch dazu: prall, mit feucht glänzender, blassrosa schimmernder Haut, gewaschen und gekühlt im chlorierten Eiswasserbad.

Was die US-Studenten Tom und Taylor zur Hühnerdebatte sagen

Ran an die McNuggets! Schon 1930 entstand die erste Franchisekette, die das Huhn an den Hungrigen brachte: Kentucky Fried Chicken.
Ran an die McNuggets! Schon 1930 entstand die erste Franchisekette, die das Huhn an den Hungrigen brachte: Kentucky Fried Chicken.

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Entsprechend der Übung, die an diesem Tag auf dem Lehrplan steht, hat Chlorhuhn Nummer 134 auch ein luftgekühltes, dem europäischen Huhn nachempfundenes Gegenstück: einen kleineren, trockeneren Hühnerkörper mit gelbstichiger Haut, etwas verdörrt und dekadent malade wirkend. Das luftgekühlte Huhn ist außerdem leichter als das wassergekühlte, stellen die Studenten fest, die sich zum Wiegen ihrer Objekte artig in einer Reihe aufstellen.

Tom, 21, schlaksig, mit roggenblondem und adrett gescheitelten Haar, filetiert sein Huhn mit ein paar fixen, geübten Griffen. Er mache das ja auch nicht zum ersten Mal, sagt er. Was ihn an Hühnern fasziniere? „Das Geld“, sagt er lakonisch, die Milliardenbranche. Nicht der Vogel? „Ja, der Vogel natürlich auch.“ Er wolle nach seinem Abschluss in die Industrie gehen, sagt er. Gelassen, wie jemand, der sich seiner Sache sehr sicher ist.

Taylor, ebenfalls 21, beugt sich über Chlorhuhn 134, das Messer bereits in der Hand. Taylor, die später Tierärztin werden will, ist zierlich, trägt ein schwarzes Tanktop, Jeans, Biker-Boots und die blonden Locken straff nach hinten gebunden. Sie kennt nichts anderes als Chlorhühner, ihre Eltern auch nicht, denn Chlorzusätze werden in den USA zur Geflügeldesinfektion bereits seit den späten 1950er Jahren verwendet, seit die Hühnerwirtschaft in die Massenproduktion ging. 30 Jahre nachdem Mrs. Cecile Steele in Delaware ihr Geschäft mit der Hühnerzucht begann.

Jesse Jewell baute 1940 die ersten Bruthäuser. Es folgten: Hühnerfabriken

Der Vater der vollintegrierten, sogenannten vertikalen Hühnerproduktion in den USA war ein Geschäftsmann aus der Kleinstadt Gainesville in Georgia namens Jesse Jewell. In den 1920er Jahre hatten Schädlinge einen Großteil der Baumwollernte in den Südstaaten zerstört, und die Wirtschaftskrise traf die Farmer zusätzlich schwer. Jewell, dessen Vater einen kleinen Saatgut- und Futtermittelbetrieb hatte, gab den Farmern gegen Kredit Küken samt Futter zur Aufzucht, kaufte die Hühner Monate später zu einem garantierten Preis zurück und verkaufte sie dann mit Gewinn an Schlachtereien von Atlanta bis New York.

1940 baute er eigene Bruthäuser, später eine Geflügelfabrik mit Schlachtstraße, Futtersilos und eine Abdeckerei. Der Zweite Weltkrieg beförderte das Geschäft weite. „J. D. Jewell“ war bis in die 50er Jahre hinein die größte Geflügelfabrik der Welt und Vorbild für die moderne Geflügelproduktion, die die gesamte Produktionskette, vom Ei bis zur Verpackung, unter einem Dach vereint. Es war die Zeit, in der auch das Franchise-Unternehmen „Kentucky Fried Chicken“ expandierte, das 1930 von Harland D. Sanders aus seinem Tankstellenimbiss heraus gegründet worden war. Sanders starb 1980 als erfolgreicher Mann. 1986 wurde sein Unternehmen für 840 Millionen US-Dollar an die Pepsi Co. verkauft. Da boomte Hühnerfleisch. Seit den frühen 1980er Jahren gab ausgerechnet das wachsende Gesundheitsbewusstsein der Geflügelindustrie und damit auch der Chlorhuhn-Produktion einen weiteren Schub, als weißes Geflügelfleisch als magerere Alternative zu Rind und Schwein vermarktet wurde. „Die Nachfrage nach größeren, saftigeren, helleren Hühnerbrüsten schnellte in die Höhe“, erinnert sich Michael Lacy. „Das hat die Branche definitiv verändert.“

Drei Giganten dominieren den Markt, gegen einen agitiert Peta

Veränderung hieß vor allem: Konsolidierung. Viele kleinere Hühnerfarmen, Brut- und Mastbetriebe wurden von großen Geflügelproduzenten aufgekauft, und auch die wenigen noch verbliebenen selbstständigen Betriebe werden heute vor allem von Futtermittelherstellern oder Verarbeitern finanziert. Ein Modell, das in den USA und in vielen Teilen der Welt praktiziert wird – globalisierte Hühnerwirtschaft, die mit Jesse Jewell aus Georgia vor mehr als 90 Jahren begann. Drei Giganten dominieren derzeit den amerikanischen Hühnermarkt: Tyson Foods, Perdue Farms und Pilgrim’s Pride, der KFC-Lieferant, dem die Tierschutzorganisation Peta Verstöße gegen Haltungsbestimmungen vorwirft. Die meisten Fabriken befinden sich im amerikanischen Süden, und Georgia ist der größte hühnerproduzierende Bundesstaat in den USA. Ein idealer Standort also für die Studenten von Geflügelprofessor Lacy.

„Hühner sind schon sehr bemerkenswerte Vögel“, findet Taylor. Mit zusammengezogenen Brauen betrachtet sie die Anatomie der Chlorhuhnleiche vor sich auf dem Seziertisch. „Wir kennen Hühner besser als die meisten anderen Vögel“, sagt sie, „deshalb können wir so viel von ihnen lernen.“ Dann setzt sie das Messer am Rücken von Nummer 134 an und macht behutsam den ersten Schnitt.

Katja Ridderbusch[Atlanta]

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