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Durch das Land geht ein tiefer Riss: Erdogan-Anhänger feiern ihren Ministerpräsidenten.

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Update

Proteste in der Türkei: Erdogan gibt ausländischen Medien Mitschuld an Ausschreitungen

Hinter der Türkei liegt ein heißes Wochenende, besonders in Istanbul und Ankara kam es zu Zusammenstößen mit Regierungsgegnern. Gleichzeitig gab es am Abend eine Großkundgebung der Regierungspartei, zu der Hunderttausende Anhänger kamen. Ministerpräsident Erdogan sprach mehr als eine Stunde - und gab auch ausländischen Medien Schuld an den Geschehnissen.

Nach der Räumung des von Demonstranten besetzten Gezi-Parks in Istanbul durch die Polizei hat die Türkei die schwersten Straßenschlachten seit Jahren erlebt. Allein in Istanbul wurden in der Nacht zum Sonntag nach Angaben der Protestbewegung hunderte Menschen verletzt. Am Sonntag brachen erneut Auseinandersetzungen in Istanbul und in der Hauptstadt Ankara aus. Die Regierung warnte, sie werde jeden, der sich dem geräumten und abgeriegelten Park nähere, als „Terroristen“ behandeln.

Dennoch begann die Protestbewegung mit neuen Demonstrationen. Zusätzlich provozierte eine für den Abend vorgesehene Großkundgebung der Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in Istanbul. Er bleibt damit auf Konfrontationskurs. Vor Hunderttausenden von Anhängern bezeichnete er am Sonntag in Istanbul die Protestbewegung als „Terroristen“ und „Gesindel“. Er wies auch Kritik des Europaparlaments an seiner Politik der harten Hand zurück.

Unter dem begeisterten Jubel seiner Parteifreunde sagte er: „Es gab auch in Frankreich, Deutschland und Großbritannien viel Gewalt gegen Protestierende, was habt Ihr dagegen getan?“ Ausländischen Medien warf Erdogan vor, ein Zerrbild der Türkei zu zeichnen. „Wer das (wahre) Bild der Türkei sehen möchte, (...) hier ist es“, sagte Erdogan mit Blick auf die eigene, friedliche Kundgebung. Die Räumung des Gezi-Parks verteidigte er damit, dass der Platz nicht einer einzelnen Gruppe, sondern allen Bewohnern Istanbuls gehöre.

Die Proteste, oder vielmehr der rabiate Umgang mit den Demonstranten, gefährdet mittlerweile sogar den EU-Beitritt der Türkei. Aber die Proteste reißen nicht ab.
Die Proteste, oder vielmehr der rabiate Umgang mit den Demonstranten, gefährdet mittlerweile sogar den EU-Beitritt der Türkei. Aber die Proteste reißen nicht ab.

© Reuters

„Die Stadtverwaltung hat den Platz gesäubert, pflanzt jetzt Blumen und begrünt ihn. Die wahren Umweltschützer sind jetzt am Werk.“ Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP veranstaltete ihre Kundgebung als Antwort auf die Protestwelle auf dem größten Platz von Istanbul im Vorort Zeytinburnu. Das Treffen stand unter dem Motto „Los, lasst uns das große Spiel stören und Geschichte schreiben!“. Nach Ansicht von Beobachtern ist mit dem „großen Spiel“ eine angebliche „Verschwörung“ gemeint, die das Ziel haben soll, den wirtschaftlichen Aufschwung der Türkei zu stoppen.

Erdogan sprach länger als eine Stunde. Währenddessen demonstrierten in der Innenstadt Zehntausende gegen seine Politik.

Am Samstag hatte Erdogan die Räumung eines Zeltlagers der Demonstranten im Gezi-Park verlangt; wenig später rückte die Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas in den besetzten Park vor. Grünen-Chefin Claudia Roth, die sich zum Zeitpunkt des Angriffs im Gezi-Park aufhielt, warf der Erdogan-Regierung im Gespräch mit dem Tagesspiegel vor, einen „Krieg gegen die Menschen“ zu führen.

Der britische Historiker Timothy Garton Ash fordert die EU auf, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei fortzusetzen. Brüssel müsse jetzt erst recht mit Ankara im Dialog bleiben, sagte er dem Tagesspiegel. Garton Ash, der sich als Beobachter der friedlichen Revolutionen von 1989 einen Namen gemacht hat, hofft auf Staatspräsident Abdullah Gül als gemäßigten Nachfolger Erdogans. Gül könnte das „türkische Modell“ fortsetzen, das „als friedliches Zusammenspiel von Säkularismus, Islam und Demokratie“ auch eine Vorbildfunktion für die arabische Welt habe.

Erdogan werde sein Vorgehen in Istanbul dagegen dauerhaft belasten, sagte Garton Ash: „Mit seiner neo-osmanischen, neo-sultanischen Haltung hat sich Erdogan in der Tat selber beschädigt. Seinen Ruf in der Welt wird er kaum wiederherstellen können.“ Viele Kommentatoren in der Türkei erwarten nach den Ereignissen vom Wochenende dagegen neue Rückschläge für die türkische EU-Kandidatur. Die Kolumnistin Asli Aydintasbas sagte, möglicherweise würden die türkischen Beitrittsverhandlungen auf Eis gelegt. Der Rechtsanwalt und Menschenrechtler Orhan Kemal Cengiz beklagte, die Türkei sei durch die Spannungen um mehrere Jahrzehnte zurückgeworfen worden.

In einigen Stadtteilen Istanbuls hielten die Straßenkämpfe bis zum Morgengrauen an. Tausende Demonstranten blockierten in der Nacht zudem mehrere Hauptverkehrsstraßen in der 15-Millionen-Stadt. Auch in der Hauptstadt Ankara und anderen Regionen der Türkei gab es Straßenschlachten.

Am Sonntag lieferten sich Polizisten und Demonstranten in der Nähe des Gezi-Parks erneut Auseinandersetzungen. Die Sicherheitskräfte gingen zudem in einem Einkaufszentrum vier Kilometer nördlich des Parks mit Tränengas gegen Demonstranten vor. Die Polizei riegelte den Park und den benachbarten Taksim-Platz ab; städtische Arbeiter beseitigten unterdessen die Überreste des Zeltlagers der Demonstranten und pflanzten neue Blumenrabatten. Ein Luftbild vom Gezi-Park zeigte am Sonntag, dass alle Zelte, Plakate und Transparente der Demonstranten aus dem baumbestandenen Gelände entfernt worden waren. Die Polizei wollte nicht sagen, wann der Park und der Taksim- Platz wieder zugänglich sein würden.

Das Protestbündnis „Taksim-Solidarität“ rief trotz eines behördlichen Demonstrationsverbots in der Innenstadt seine Anhänger zu neuen Kundgebungen auf. Das Bündnis forderte die Istanbuler Bürger auf, sie sollten halb volle Wassereimer vor die Haustüren stellen, in denen notfalls Tränengasgranaten der Polizei unschädlich gemacht werden könnten.

Die Ärztevereinigung TTB kritisierte, die Polizei habe einen Arzt und einen Medizinstudenten festgenommen und in Handschellen abgeführt, weil diese nach dem Angriff auf den Park den vom Tränengas betroffenen Demonstranten geholfen hätten. Eine Istanbuler Frau, die nicht genannt werden wollte, sagte, sie habe Angst vor einem Bürgerkrieg.

Die Proteste entzündeten sich Ende Mai an einem Bauvorhaben der Regierung im Gezi-Park, haben sich inzwischen aber zu einer landesweiten Bewegung gegen die Politik Erdogans entwickelt. Kurz vor dem Polizeiangriff auf den Park hatte die Protestbewegung ein Angebot Erdogans zur Beilegung des Streits abgelehnt. (mit dpa)

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