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Update

Proteste in der Ukraine: Auch an der Informationsfront wird gekämpft

Die Opposition hat nach eigenen Angaben am Sonntagabend in Kiew das Justizministerium erstürmt. Eine offizielle Bestätigung gab es bisher nicht. Die Ukrainer haben genug, aber mit der Opposition geht es auch nicht recht voran. Denn eine Antwort auf die wichtigste Frage bleibt sie schuldig.

Es ist acht Uhr morgens, als am Sonntag über dem Maidan die Sonne aufgeht. Der Himmel strahlt blau, als die ersten Einheiten der „Samooborona“, der Selbstverteidigungskräfte, brüllend über den Platz marschieren. Auf der großen Bühne, hier mitten in Kiew, beginnt der Tag mit dem Absingen der ukrainischen Nationalhymne. Der Maidan lebt sein Leben weiter. Und eigentlich ist es kaum vorstellbar, dass dieser Zauber bald vorbei sein könnte. Dabei hatte es noch Stunden zuvor beinahe so ausgesehen. In eiskalter Nachtluft steht Vitali Klitschko am späten Samstagabend auf der Bühne des Maidan. Bei ihm Arseni Jazenjuk, Vorsitzender von Julia Timoschenkos Partei „Vaterland“, Oleg Tjagnibok, der Nationalist, und Pjotr Poroschenko, der Oligarch, der mit seinem Fernsehsender dem Protest mediale Rückendeckung gibt. Vor ihm nicht mehr hunderttausend Demonstranten wie noch vor einigen Wochen, nicht einmal mehr zehntausende, nur noch der harte Kern. Der wartet auf eine klare Ansage. Es herrscht angespannte Ruhe.

Ein verlockendes Angebot

Nach zähen, mehrtägigen Verhandlungen hat Präsident Viktor Janukowitsch der Opposition ein verlockendes Angebot gemacht: Arseni Jazenjuk soll Premierminister werden, Vitali Klitschko sein Stellvertreter. Klitschko weiß: Das überraschende Angebot ist eine Falle. Weist er es zurück, hat der Präsident alles Recht, die Opposition als kompromissunfähig zu bezeichnen. Nimmt er an, werden die Demonstranten ihn und Jazenjuk beschuldigen, für ein Stück Macht den Protest verraten zu haben.

„Gerade kommen wir von schwierigen Verhandlungen zurück“, ruft Klitschko. „Verhandlungen, um den Menschen Gerechtigkeit und ein Leben in einem normalen Land zurück zu bringen.“ Er blickt konzentriert auf den Tablet-PC in seiner Hand und liest ab. „Der Präsident ist bereit, alle Festgenommenen zu amnestieren, zur Verfassung von 2004 zurückzukehren, zum Rücktritt der Regierung“, ruft er und kommt ins Stocken, weil ihm immer wieder russische Worte in seine ukrainische Rede rutschen. „Aber wir fordern eine Abschaffung der diktatorischen Gesetze und Präsidentschaftswahlen noch in diesem Jahr. Wir halten unsere Positionen auf dem Maidan und in den Regionen. Die Verhandlungen gehen weiter, und wir müssen durchhalten.“ Bei jedem Punkt jubelt die Menge ein bisschen, enthusiastisch klingt es nicht. Denn eine Antwort auf die wichtigste Frage bleibt Klitschko ihnen schuldig. Was ist denn nun mit Janukowitschs Angebot?

„Zum Teufel mit dem Kriminellen.“

„Seka het, Seka het“, haben die Menschen vor der Bühne am Samstagabend immer wieder gerufen, auch kurz vor dem Auftritt der Opposition. „Zum Teufel mit dem Kriminellen.“ Sie meinen Janukowitsch. Sechs Demonstranten sind während der Straßenkämpfe der vergangenen Tage gestorben. Ein baldiger Rücktritt des Präsidenten ist das Einzige, was die Menschen zufriedenstellen wird.

Als Vitali Klitschko über die jüngsten Verhandlungen mit Janukowitsch spricht, kann Igor ihn nicht hören. Dabei steht der hochgewachsene junge Ukrainer nur einige hundert Meter von der Bühne entfernt. In der Luft liegt der beißende Geruch verbrannter Autoreifen. „Das ganze Gerede interessiert mich nicht“, schimpft Igor, ohne den Blick von jenen zu wenden, die ihm einen Steinwurf entfernt gegenüberstehen: Hunderte Polizisten des Innenministeriums und Mitglieder der Sondereinheit „Berkut“ hinter ihren metallenen Schutzschilden. Schon einige Stunden hält eine Waffenruhe. Was eher die Ausnahme ist. Zwischen Demonstranten und Polizei liegen die Gerippe ausgebrannter Polizeibusse, Tausende Pflastersteine, detonierte Feuerwerkskörper, Scherben von Molotowcocktails, Drahtknäuel, die übrig geblieben sind von den hunderten verbrannten Autoreifen. Das Schlachtfeld ist bedeckt von einer dicken Eisschicht – über Tage hat die Polizei versucht, die brennenden Reifenbarrikaden zu löschen.

Ein Leben auf den Barrikaden

Igor gehört wie Tausende andere den Selbstverteidigungseinheiten „Samooborona“ an und seinen Nachnamen möchte er nicht veröffentlicht wissen. Er ist vorbereitet für den Fall, dass es wieder losgeht: Schienbeinschoner, Helm und Skibrille gehören zur Grundausstattung, mit seinem Gummiknüppel ist Igor aber eher schwach bewaffnet. Andere tragen metallene Lanzen, Mistgabeln, Baseballschläger. Der harte Kern der gewalttätigen Aktivisten ist der „rechte Sektor“, der sich aus Fußballhooligans und rechtsradikalen jungen Männern formiert. Es ist die Drohkulisse, die Viktor Janukowitsch zum Einlenken bewegen soll, nachdem zwei Monate friedlicher Proteste auf dem Maidan Nesaleschnosti, dem Unabhängigkeitsplatz, kein einziges Ergebnis gebracht haben.

Igor stammt wie viele jener radikalen Demonstranten auf den Barrikaden aus einer Stadt im Westen des Landes. Er hat sich die Kiewer Dauerdemo zwei Monate im Fernsehen angeschaut, aber als er auf der Mattscheibe explodierende Tränengasgranaten sah, Polizisten, die wild auf Demonstranten einprügeln, als erste Berichte von Todesopfern folgten, da konnte ihn nichts mehr halten. Am Mittwoch meldete er sich telefonisch beim Chef seiner Autowerkstatt ab, suchte im Stadtzentrum von Ternopil den Sammelplatz für Freiwillige, und in wenigen Stunden war er im Zentrum des Geschehens.

"Hin und wieder werfe ich einen Molotowcocktail"

Seitdem spielt sich sein Leben auf den Barrikaden ab. Wache halten, dann ein paar Stunden Schlaf im beheizten Armeezelt der Ternopiler auf dem Maidan, wieder zurück auf die Barrikaden. Wie lange soll das gehen? „Bis Janyk zurücktritt“, sagt er. Darum geht es jetzt. Die Europäische Union? „Es wäre nicht schlecht, wenn man die Visa abschaffen würde“, fällt ihm dazu ein. Die wilden Straßenschlachten, als Polizei und Demonstranten sich gegenseitig die Gruschewski-Straße hoch- und runterjagten, hat er zwar verpasst. „Aber hin und wieder werfe ich einen Molotowcocktail oder einen Stein auf die Polizei“, sagt Igor ruhig. Es sind diese kleinen Scharmützel, die die ukrainische Hauptstadt seit vergangenem Mittwoch nicht zur Ruhe kommen lassen. Doch der Befehl, den die Polizei ausführt, ist klar: Bis hierher und keinen Schritt weiter. Denn nur etwa hundert Meter hinter dem Rücken der Polizisten erhebt sich zehn Stockwerke hoch das Gebäude der ukrainischen Regierung. Fällt es in die Hände der Demonstranten, verliert Viktor Janukowitsch die Kontrolle.

Wie sehr sich Präsident Janukowitsch seiner Macht überhaupt noch sicher sein kann? Darüber spekulieren seit zwei Monaten nicht nur die Ukrainer. 2010 hatte er sich knapp gegen Julia Timoschenko durchgesetzt und danach ein autoritäres System installiert. Er hat Timoschenko ins Gefängnis gebracht, in praktisch allen Landesteilen loyale Verwaltungschefs eingesetzt; er hat im Parlament eine Mehrheit formiert und die wichtigsten Medien unter seine Kontrolle gebracht. Und er hat sich persönlich bereichert: Sein Sohn Alexander hat praktisch aus dem Nichts ein Vermögen von einer halben Milliarde Dollar zusammengerafft.

Jetzt herrschen andere Zeiten

Wirklich genug hatten die Ukrainer aber erst, nachdem er ihnen ins Gesicht spuckte: Über Monate hatte selbst seine „Partei der Regionen“ für ein Assoziationsabkommen mit der Europäischen Union geworben, doch plötzlich verweigerte er die Unterschrift wegen angeblich negativer Folgen, die das Abkommen für die Bürger seines Landes haben werde. Seitdem stehen die Menschen auf dem Maidan. Und mittlerweile nicht mehr nur dort: In mehreren Teilen des Landes, allerdings vor allem im ohnehin oppositionellen Westen, haben Demonstranten zudem während der vergangenen Tage die Gebietsverwaltungen besetzt, um den Druck auf Janukowitsch zu erhöhen. Doch in den eher prorussischen Gebieten scheitern die Demonstranten, etwa am Sonntagnachmittag im südöstlich von Kiew gelegenen Gebiet Saporoschje. Auch Iryna Melnik hört Vitali Klitschko nicht zu. Sie sitzt in ihrer Kiewer Wohnung und teilt auf Facebook Hilfeaufrufe. Viele Aktivisten sind in den vergangenen Tagen verschwunden, auf dem Heimweg vom Maidan oder aus den Krankenhäusern der Stadt. Iryna schmerzen die Hände. Normalerweise halten sie Pinsel und zeichnen feine Striche für das Design von Werbekampagnen in einer internationalen Agentur. Doch jetzt herrschen andere Zeiten. Von acht Uhr morgens bis nachmittags um vier hat die 30-Jährige, in eine dicke Jacke eingepackt, in einer der vielen Feldküchen auf dem Maidan Zwiebeln, Kartoffeln und Speck geschnitten, draußen auf dem offenen Feuer wird daraus in riesigen Kesseln ukrainischer Borschtsch gekocht, der die Demonstranten bei Temperaturen von minus 20 Grad wärmt. Das macht sie nun seit mehr als einer Woche. Von neun bis zwölf Zwiebeln schneiden, nachmittags und abends designen in der Werbeagentur. „Das war ein Aufschrei des Volkes“, sagt Iryna Melnik über diese gewalttätigen Proteste, die nun schon eine Woche andauern. Seitdem die Oppositionsführer – wieder einmal – ohne Ergebnisse auf den Maidan gekommen waren.

Gerüchte haben in diesen unruhigen Zeiten Konjunktur

Aber nicht weniger ist Iryna Melnik von der Europäischen Union enttäuscht. Wütend fragt sie: „Braucht Europa uns Ukrainer wirklich, oder sind wir nur Teil eines Spiels mit Russland?“ Wäre Europa wirklich für Demokratie und Gerechtigkeit, meint sie, so hätte es doch schon längst Sanktionen gegen den „Kriminellen und seine Bande“, wie Janukowitsch und seine Regierung hier schlicht heißen, erlassen. Stattdessen gibt es immer wieder „Worte der Besorgnis“ aus Brüssel.

Erließe die EU tatsächlich Sanktionen, träfe sie auch Leute wie den auf Fotos stets selbstbewusst-freundlich lächelnden Rinat Achmetow, den 22,3 Milliarden schweren Oligarchen aus dem Donbass, dem der Champions-League-Club Schachtar Donezk gehört und der Experten zufolge allein 50 Abgeordnete von Janukowitschs „Partei der Regionen“ kontrolliert. Sie stützen den Präsidenten. Achmetow hat vor dem Wochenende mal wieder einen seiner weichen Aufrufe veröffentlicht, hat die Gewalt vonseiten der Demonstranten und der Polizei verurteilt und zu einer Lösung am Verhandlungstisch aufgerufen. Würden Oligarchen wie Achmetow wirklich von Janukowitsch abrücken, wäre es das Ende des Präsidenten. Anhaltspunkte dafür gibt es bislang jedoch nicht. Gleichzeitig machen immer wieder Gerüchte über heimliche Verhandlungen zwischen den Oppositionellen um Klitschko und den Oligarchen die Runde.

Kampf an der Informationsfront

Gerüchte haben in diesen unruhigen Zeiten ohnehin Konjunktur. Denn der politische Kampf wird auch an der Informationsfront gekämpft. Am Samstagmittag verbreitet das Organisationskomitee des Maidan, man verfüge über sichere Informationen, dass Janukowitsch kurz davor stehe, einen Erlass über die Einführung des Ausnahmezustands zu unterschreiben. Für die Verbreitung solcher Gerüchte ist der Sender des Oligarchen Poroschenko, der „5. Kanal“, zuständig, der praktisch rund um die Uhr vom Maidan berichtet. Zu den immer wieder gestreuten Klassikern gehören auch Gerüchte über Scharfschützen aus Russland, die vom dortigen Geheimdienst FSB nach Kiew geschickt worden seien, um auf die Demonstranten zu schießen. Am Wochenende werden auf einem Dach am Maidan angeblich Hülsen der Munition eines Kalaschnikow-Gewehres gefunden und als Beweis präsentiert.

Janukowitsch-treue Medien hingegen berichten von „großen Vorräten an Feuerwaffen“ in den von den Demonstranten besetzten Häusern. Am Samstag erklärt der ukrainische Innenminister, in einem der besetzten Häuser würden Polizisten festgehalten und gefoltert. Am Abend teilt er mit, die Polizisten seien freigelassen worden, müssten aber im Krankenhaus behandelt werden, weil sie gefoltert wurden. Bilder gibt es nicht.

In keiner Sprache gibt es eine klare Antwort

Gab es die Polizisten überhaupt? Wurden sie gefoltert? Woher stammen die Munitionshülsen der Kalaschnikow? Dichtung und Wahrheit verwickeln sich in diesen Tagen in immer neuen Volten in ein unentwirrbares Knäuel.
Als Vitali Klitschko am Samstag nach seiner Rede hinter die Bühne tritt, stürzen sich Kamerateams aus allen möglichen Ländern auf ihn und die übrigen Oppositionspolitiker. Klitschko antwortet vor allem auf Deutsch, was einer gewissen Komik nicht entbehrt. Schließlich ist er ein ukrainischer Politiker. Aber in keiner Sprache gibt es eine klare Antwort auf die Frage aller Fragen: Werden Klitschko und Jazenjuk in eine Regierung unter einem Präsidenten Janukowitsch eintreten? „Das ist ihr Vorschlag, wir verhandeln weiter“, sagt Klitschko, steigt in einen schwarzen Jeep und fährt davon. Mehr ist nicht zu erfahren. Der Boxweltmeister sieht müde aus.
Um halb vier am Sonntagmorgen ist er schon wieder im Einsatz. Im „Ukrainischen Haus“, dem Messezentrum von Kiew, nahe dem Maidan, haben sich rund 200 Polizisten verschanzt, hunderte Demonstranten warfen Molotowcocktails und Steine, attackierten. Bis Klitschko kommt, vermittelt – und schließlich einen ungehinderten Abzug der Polizisten aushandelt.
Kämpfe dieser Art ist Klitschko gewöhnt. Einen Kampf, bei dem der Gegner ihm einen Platz an seiner Seite anbietet, nicht. Sie werden weiter verhandeln, hat er gesagt und eine Lösung der politischen Krise in der Ukraine scheint inzwischen sehr nah. Ob die Radikalen unter den Demonstranten sich mit der Lösung zufrieden geben, ist eine andere Frage.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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