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Das „Haus der Gewerkschaft“ in Kiew.

© Pauline Tillmann

Proteste in Kiew: Leben in der WG des Widerstands

In der Küche schmieren sie bergeweise Brote, auf den Fluren schlafen erschöpfte Aktivisten, die vierte Etage gehört den rechten Schlägern. Das „Haus der Gewerkschaft“ in Kiew ist zu einer Zentrale der Opposition geworden. Das Rathaus wurde am Wochenende geräumt, hier aber denkt keiner an Abzug.

In die Eingangshalle haben sie Lumpen gelegt. Jeder, der hineinkommt, soll sich auf ihnen die Schuhe abstreifen. Die Straßen in Kiew sind dreckig – die Spuren der Kämpfe, der Matsch des Winters. An der rechten Wand türmen sich Pullover, Hosen, Mützen und Handschuhe. Wer friert, der darf sich eindecken, auf dem Weg hinaus.

Doch hier drinnen, im „Haus der Gewerkschaft“, diesem beigefarbenen Sowjetgebäude am Maidan, ist es warm. Ende November von Demonstranten besetzt, sind die sechs Stockwerke des klobigen Hauses mittlerweile so etwas wie die Zentrale des Widerstandes, die Herzkammer des Maidan. Hier wird gekocht, geschrieben, geplant, geschlafen und verarztet. Tausende Demonstranten gehen täglich ein und aus. Zehntausende, wenn draußen auf dem Maidan eine Kundgebung stattfindet.

Wassilij ist seit Dezember immer wieder in Kiew gewesen – wie die meisten kommt er mal für eine Woche, mal nur für ein paar Tage. Wenn er in der Stadt ist, wohnt er bei Freunden. Nun aber steht er in der improvisierten Küche im Erdgeschoss, in den Räumen, die einmal die Kantine der Gewerkschaftler waren. Im hinteren Zimmer werden Borschtsch und Nudeln gekocht, es gibt Backöfen und Spülen. Vorne, bei Wassilij, sind zwei lange Tische zusammengeschoben. Hier bestreichen Freiwillige Brote mit Schmalz, oben drauf legen sie ein Stück saure Gurke. Anschließend stapeln sie die Stullen in einem Karton. Draußen in den Straßen werden sie später verteilt.

Etwa 5000 Laibe Weißbrot türmen sich wie ein riesiger Haufen hinter Wassilij an einer Wand auf. „Uns geht das Brot nicht aus“, sagt er trocken. Und doch: Der riesige Brotberg wird vielleicht drei Tage reichen. Dann muss Nachschub her.

Etwa 5000 leben permanent auf dem Maidan

Für wie viele Demonstranten sie hier täglich Essen zubereiten, lässt sich kaum sagen. Man schätzt die Zahl derer, die mittlerweile permanent auf dem Maidan leben, auf etwa 5000. Viele haben ihr Zelt auf der ehemaligen Prachtmeile Khreshchatyk aufgeschlagen. Manche von ihnen kochen selbst, aber die meisten greifen auf das Essen aus der Gewerkschaftsküche zurück. „Das Wichtigste ist“, sagt Wassilij, „dass die Leute satt und zufrieden sind.“ Ohne Essen kein wochenlanger Widerstand.

Barrikaden-Catering in der Feldküche des Gewerkschaftshauses.
Barrikaden-Catering in der Feldküche des Gewerkschaftshauses.

© Pauline Tillmann

Wassilij kommt aus Lwiw, dem ehemaligen Lemberg, unweit der polnischen Grenze. Er ist 32 Jahre alt, ein jugendlicher Typ in Trainingsjacke und Turnschuhen, zuhause sei er „Unternehmer“, sagt er. Im Gewerkschaftshaus ist er nun für die Küche zuständig: Er koordiniert den Einkauf von Lebensmitteln – bezahlt durch Spenden von Privatpersonen und den Oppositionsparteien – und er wacht über die Bestände im Lager. Dort stapeln sich zehn Tonnen Kartoffeln und fünf Tonnen Buchweizen. Große Wasserkanister werden mit einem Lastwagen geliefert, denn das Leitungswasser trinkt man besser nicht.

Wassilijs Augen wirken müde, sein Körper erschöpft. Seinen Nachnamen möchte er nicht verraten. Zu groß ist die Angst davor, dass er als Oppositioneller verschleppt, misshandelt oder eingesperrt werden könnte. Noch immer gelten viele Demonstranten in der Ukraine als vermisst. Was mit ihnen passiert ist, darüber gibt es nur Vermutungen. Die Menschen auf dem Maidan sind vorsichtig geworden.

So vorsichtig wie nötig jedenfalls. Wassilij sagt: „Klar, es gibt Repressionen, aber ich bin hier, um für meine Meinung einzutreten – ich kann daran nichts Falsches erkennen.“ Neben einem Regal, in dem unzählige Marmeladengläser stehen, hängt eine europäische Flagge mit der Aufschrift „Ukraine ist Europa“. Auch Wassilij weiß, dass ein Beitritt in die Europäische Union, wie ihn die Opposition fordert, derzeit noch Utopie ist. Aber er wünscht sich zumindest westliche Standards wie Rechtssicherheit, ein funktionierendes Gesundheitssystem und – für seine Eltern – höhere Renten. Derzeit beträgt die durchschnittliche Rente in der Ukraine etwa 100 Euro.

Sie stellen sich aufs Bleiben ein

Seiner Meinung nach sollte Präsident Viktor Janukowitsch zurücktreten. „In meinen Augen sind das alles Verbrecher“, sagt Wassilij, „und deshalb müssen wir alles dafür tun, sie loszuwerden.“ Nur klappt das nicht so leicht wie vorgesehen, auch nicht nach Monaten des Protest. Denn Janukowitsch versucht, die Krise auszusitzen.

Im Gewerkschaftshaus stellen sie sich deshalb aufs Bleiben ein. Ein Fahrstuhl verbindet die einzelne Stockwerke miteinander, doch da dieser ständig belegt ist, nimmt jeder, der es eilig hat, die Treppen. Die Wände sind zugekleistert mit Plakaten der Oppositionsparteien, mit Notrufnummern, Vermisstenanzeigen und Veranstaltungshinweisen.

Drei Schlaflager gibt es mittlerweile, eines befindet sich ganz oben im sechsten Stock, eines im fünften, eines im dritten. Für Auskünfte ist in jeder einzelnen Etage ein sogenannter Kommandant zuständig. Im dritten Stock ist das Miroslaw Petrow, ein schmaler Mann mit kurzem hellbraunem Haar. Er gehört zu Vitali Klitschkos Partei UDAR. Auf einem Tisch steht ein rotes Fähnchen mit dem Schriftzug. Im Flur dahinter schlafen erschöpfte Demonstranten.

„Bis zu 300 Menschen ruhen sich hier aus, wenn sie von der Arbeit zurückkommen“, sagt Petrow. Mit „Arbeit“ meint der 32-Jährige vor allem Barrikaden aufbauen, demonstrieren und patrouillieren. Geschlafen wird in Schichten, es gibt zwei in der Nacht und eine am Tag. Die Demonstranten leihen sich dünne Matratzen aus und breiten ihre Bettwäsche darüber aus. Morgens wird aufgeräumt – und die Matratzen werden wieder abgegeben.

An den Wänden hängen Schilder, auf denen die Benimmregeln der Hausgemeinschaft geschrieben stehen: „Hygiene einhalten“, „Alkoholische Getränke verboten“ und „Kein Rauchen auf den Toiletten“. Es riecht nach dreckiger Wäsche. An manchen Türen sind Namensschilder angebracht, die Büros gehören Gewerkschaftsvertretern, die sich tagsüber zum Beispiel für die Interessen von Flugzeugbauern einsetzen. Oder von Bergarbeitern aus dem Donbass, dem ukrainischen Ruhrpott, woher auch Präsident Janukowitsch stammt. Man sagt, dass auch Demonstranten von dort auf dem Maidan protestieren, wenn sie auch nur eine Minderheit sind.

„Auf eine Räumung lassen wir uns niemals ein“

Wassilij ist für die Verpflegung der Demonstranten zuständig.
Wassilij ist für die Verpflegung der Demonstranten zuständig.

© Pauline Tillmann

„Das Herz des Maidan“, sagt Miroslaw Petrow, „trägt jeder Ukrainer in seiner Brust.“ Sollte der Protest von den Regierungstruppen brutal niedergeschlagen werden und der Unabhängigkeitsplatz in Kiew gewaltsam geräumt werden, so werden die Menschen in ihren Heimatstädten weiter auf die Straßen gehen, meint Petrow. „Wir brauchen einen Regimewechsel – und wir gehen hier nicht eher weg, bis wir ihn erreicht haben“, sagt Petrow.

Präsident Viktor Janukowitsch hat vor kurzem ein Amnestiegesetz unterzeichnet, wonach verhaftete Demonstranten freikommen sollen – dafür aber alle besetzten staatlichen Gebäude geräumt werden müssen. Nachdem das Ultimatum am Freitag ausgelaufen war, ist ihm die Opposition entgegen gekommen: Die Demonstranten gaben Sonntag zunächst einmal das Kiewer Rathaus an die Behörden zurück. Das „Haus der Gewerkschaft“ aber gilt als nicht-staatliche Einrichtung. „Auf eine Räumung lassen wir uns niemals ein“, sagt der Kommandant von UDAR und verabschiedet sich hastig mit den Worten: „Der Sieg ist unser!"

Ein Stockwerk höher hat sich der sogenannte „Rechte Sektor“ eingerichtet. Ein loser Zusammenschluss neofaschistischer Splittergruppen, eine düstere Truppe vermummter Gestalten. Selbst die Aufpasser, die am Eingang zum Schlaflager sitzen und darauf achten, nur Angemeldete reinzulassen, können die Männer mit ihren Sturmmasken kaum auseinander halten.

Im Flur stapeln sich schwere Schutzschilde, an einer Wand hängt die rot-schwarze Fahne der Nationalisten. Fotografieren ist verboten, Fremde werden sofort weggeschickt, Journalisten nach mehrmaligem Nachfragen zugelassen – und dann hastig abgefertigt. „Wir sind allzeit bereit für den Kampf“, erklärt Igor Sagrebelnij, der hier oben so etwas wie ein Pressesprecher ist. Der 25-Jährige kommt aus Poltawa in der Ostukraine und er behauptet, dass es der Verdienst seiner rund 300 Leute sei, dass überhaupt Bewegung in die Verhandlungen mit Janukowitsch gekommen ist. Denn eingelenkt habe dieser erst nach den Ausschreitungen auf der Gruschewski-Straße zwischen dem 19. und 24. Januar, an denen der „Rechte Sektor“ entscheidenden Anteil hatte. Sich zu prügeln sei den meisten hier „naturgegeben“.

Immer mehr Ukrainer unterstützen den „Rechten Sektor“

Inzwischen unterstützen immer mehr Ukrainer den „Rechten Sektor“, weil seine Anhänger vorgeben, nationale Interessen zu verteidigen. Dabei ist das Gedankengut, das auch von den Aktivisten im vierten Stock propagiert wird, in Wirklichkeit fremdenfeindlich und antisemitisch. Viele aus dem Sektor sind Anhänger der rechtsradikalen „Swoboda“-Partei, die mit Oleg Tjagnibok einen der drei Oppositionsführer stellt. Es sieht so aus, als ob Nationalismus in der Ukraine inzwischen salonfähig geworden ist. Auch das ist eine Auswirkung der Proteste.

Die Treppe hinunter ins Stockwerk Nummer zwei. Hier, direkt über dem Pressezentrum – befindet sich vielleicht die wichtigste Einrichtung im ganzen Gewerkschaftshaus ist: das provisorische Krankenhaus. Als die Proteste begannen, wurden nur Medikamente verteilt – inzwischen kann hier sogar operiert werden. Denn seit den gewaltsamen Ausschreitungen auf der Gruschewski-Straße, bei denen mindestens fünf Demonstranten ums Leben kamen, ist es auf dem Maidan gefährlicher geworden. Durch Gummigeschosse und Granaten der staatlichen Spezialeinheit „Berkut“ wurden hunderte verletzt.

Doch als die Opfer in die umliegenden Krankenhäuser gebracht wurden – so erzählen es die Ärzte und Krankenschwestern – habe die Polizei sie abgefangen. Um die Verletzten für ihren „zivilen Ungehorsam“ zu bestrafen, sei ihnen die Behandlung verweigert worden. Kurzerhand richteten die Oppositionellen also ihr eigenes „Krankenhaus“ ein. Es übernimmt die Akutversorgung der Patienten und verteilt diese anschließend zur Pflege auf Familien in Kiew.

Die Gruppe der Unterstützer ist riesig

Jetzt, wo sich die Situation etwas entspannt hat, leiden die meisten Patienten unter den Folgen der Kälte – Grippe, Lungenentzündungen und Bronchitis gebe es häufig, sagt Alek, einer der Ärzte. Alek ist selbstständig und arbeitet wie alle seine Kollegen im Gewerkschaftshaus ohne Bezahlung. Selbst Ärzte, die in einem Krankenhaus angestellt sind, kommen an den Wochenenden vorbei, andere nehmen frei oder opfern ihren Urlaub. „Wir haben hier alles was wir brauchen“, sagt Alek. Spritzen, Pflaster, Desinfektionsmittel, im Lager stapeln sich Tabletten und Salben bis zur Decke.

Medikamente werden entweder von Spendengeldern gekauft oder vorbeigebracht. Die Gruppe der Unterstützer reicht vom Studenten über den Geschäftsmann bis hin zur Kiewer Großmutter. Was bemerkenswert ist, denn der Durchschnittsverdienst in der Ukraine beträgt gerade mal 250 Euro. Im Monat.

Vor zehn Tagen ist im Gewerkschaftshaus ein kleiner Sprengsatz explodiert. Augenzeugen berichten, dass er sich in einer kleinen Tablettenschachtel befunden haben soll. Ein 16-Jähriger hatte diese geöffnet und wurde schwer verletzt. Im Operationssaal streift sich jetzt ein Demonstrant seine Sturmmaske vom Gesicht. Er klagt über Schmerzen im Knie. Alek gibt ihm eine Cortison-Spritze. Wenig später nimmt ein 44-Jähriger im Gang auf einem Stuhl Platz. Der Mann heißt ebenfalls Wassilij. Er hat nur noch wenige Zähne und einer dieser wenigen schmerzt. Eigentlich bräuchte er eine neue Füllung, aber einen Zahnarztbohrer hat das improvisierte Krankenhaus nicht. Dafür aber Schmerztabletten.

Wassilij kommt aus Iwano-Frankiwsk, 600 Kilometer westlich von Kiew. Er erzählt, dass er eine 20-jährige Tochter habe, die ihn nicht begleiten konnte, weil sie keinen Urlaub bekommen habe. „Aber das hier ist auch nichts für Frauen“, sagt er, „mir ist es egal, wenn ich sterbe – dafür werden es meine Kinder besser haben.“ Und ohne es zu wollen habe Präsident Janukowitsch mit seinen Repressionen zumindest eines erreicht: „Wir sind jetzt keine Sowjetbürger mehr, wir Ukrainer haben uns vereint und ja, wir sind jetzt eine Nation!“

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

Pauline Tillmann

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