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Proteste in Ungarn: Die nackte Angst

Tausende protestieren gegen die Regierung von Victor Orban. Peter Konya, Chef der Oppositionsbewegung führt die Proteste an. "Die Menschen haben Angst vor der Zukunft und um ihre Existenz", sagt Konya.

Agnes Szabo hat es aufgegeben. Was in Ungarn gerade passiert, versteht sie nicht mehr, sie hat auch andere Sorgen. Dass das Geld reichen möge, ist die vordringlichste.

Agnes Szabo ist Mitte 40. Sie arbeitet in einer Firma für Textilmarketing in Budapest. Offiziell bekommt sie wie fast alle Kollegen den Mindestlohn. „Den Rest bekomme ich schwarz“, sagt sie. Als sogenannte Provision. Einen ordentlichen Lohn zu zahlen könne ihr Chef sich nicht leisten– „bei den hohen Abgaben“, sagt sie. So kam sie Ende Dezember auf rund 400 Euro Einkommen, Vollzeit und mit den „Provisionen“. Das ist nicht viel, wenn man bedenkt, dass allein die Heizkosten in ihrem Plattenbau im milden Dezember 100 Euro betrugen.

„Wir wissen nicht, was werden soll“, sagt Agnes Szabo, und das macht ihr Angst. Es ist nicht mehr viel übrig im Land von der Euphorie der Wende- und EU-Beitrittszeiten. Und damit geht es ihr wie vielen im neuen Ungarn. Dem Land, das derzeit im Mittelpunkt der europäischen Kritik steht. In dieser Woche startete die EU erste Verfahren wegen Verletzung des Gemeinschaftsrechts gegen den einstigen Musterschüler, gegen den „Zaunöffner“ der Wendezeit. Vor einem Jahr fing der Streit zwischen EU und Budapest an, da ging es um das Mediengesetz, das viele westliche Beobachter in Sorge versetzte, heute sieht man den gesamten Rechtsstaat und die Demokratie gefährdet.

Ist das so? Agnes Szabo sagt: „Demokratie kann ich nicht essen.“ Und dass sie vom Mediengesetz nicht viel verstehe, dass aber das Fernsehprogramm unter den Kommunisten genauso schlecht gewesen sei wie heute.

Agnes Szabo hat 2010 bei den damaligen Parlamentswahlen – wie da fast jeder zweite wahlberechtigte Ungar – für Fidesz gestimmt, den erst 1988 gegründeten „Ungarischen Bürgerbund“, der ursprünglich als liberale Protestorganisation junger Intellektueller gegründet wurde, sich dann bürgerlich orientierte und rechtskonservativ endete. Für die Partei von Viktor Orban, der mit diesem überwältigenden Votum im Rücken Regierungschef wurde.

Dem traute sie zu, „endlich Ordnung zu schaffen“. Neue Arbeitsplätze – eine Million binnen zehn Jahren sollten es sein –, Schluss mit Korruption und Vetternwirtschaft, endlich ein einfaches Steuersystem, Chancen für jeden, sich freizuschwimmen. Ein sicheres Leben, vielleicht ab und an mal einen schönen Urlaub, „mehr erwartet man gar nicht“. Italien wollte sie gern einmal besuchen. Dazu ist es bis heute nicht gekommen. Stattdessen kam die Flattax, die Einheitssteuer von 16 Prozent für jeden, damit sollte alles einfacher, transparenter, billiger werden. Doch wurde es immer ungerechter, und es folgten lauter Nach-, Ausnahme- und Sonderregelungen. Für Agnes Szabo bedeutet das alles bisher nur, dass sie manchmal wochenlang auf ihr Gehalt warten muss.

Aber wo soll sie sich darüber beschweren? Wenn sie arbeitslos werden sollte, „was jeden Tag passieren kann“, wie sie sagt, dann sieht es finster aus.

Frührentner gelten als "Systemschmarotzer"

Ihr Mann, Ervin, ist Frührentner. Das heißt, er ist es gewesen. Früher war er Feuerwehrmann, 30 Jahre lang. Frührentner werden heute in Ungarn als Systemschmarotzer bezeichnet. Ungarn könne sich das System „großzügiger“ Frührenten nicht mehr leisten, hat man inzwischen festgestellt. Und deshalb sollen die Frührentner in diesem Jahr „dem Arbeitsmarkt wieder zugeführt“ werden, wie es der Nationalwirtschaftsminister Matolcsy sagte. „Wer arbeiten kann, soll auch arbeiten.“

Ervin Szabo will gerne wieder arbeiten. Aber nicht als Feuerwehrmann, das schafft er nicht mehr. Er wäre am liebsten Hausmeister. Allein: Es nimmt ihn keiner. Es gibt diese Arbeit nicht, von der die Regierung immer spricht. So denken nicht nur die Szabos. Trotzdem wird Ervins Frührente von rund 250 Euro nun zum „Sozial-Einkommen“ umdeklariert – und versteuert. Wenn das Amt es will, kann es Ervin theoretisch zum Waldfegen schicken, folgt er nicht, wird die Leistung gekürzt, mitunter gestrichen. In Veszprem hat sich ein Rentner vor Weihnachten mitten im Arbeitsamt ein Messer ins Herz gerammt, als man ihm den Bescheid über die Kürzungen übergab.

So ist die Lage in Ungarn, wenn man die Ungarn fragt. IWF und EU, Mediengesetz und Nationalismusdebatte, das ist Leuten wie Agnes und Ervin Szabo viel zu weit weg. Aber seit die Zahl der mit ihrer Lage Unzufriedenen immer größer geworden ist, tut sich nun etwas.

Im Zentrum von Budapest braut es sich zusammen um Peter Konya, einen Oberstleutnant der Ungarischen Armee und bis vor kurzem Chef der Konföderation der Gewerkschaften der bewaffneten Organe. Beide Organisationen verließ er vor wenigen Wochen „aus Gewissensgründen“. Die Uniform behielt er an.

Konya, charismatisch, militärisch zackig und doch Vertrauen einflößend, ist der Gründer und Chef einer neuen Oppositionsbewegung. Sie nennt sich Szolidaritás. Denn Solidarität vermissen die Ungarn. „Was die aktuelle Situation wohl am besten beschreibt, ist, dass die Menschen in Ungarn wieder angefangen haben, sich vor der Zukunft zu fürchten“, sagt er. Es gebe eine neue Existenzangst, „vor allem bei den arbeitenden Menschen“.

Ein Land auf dem Weg in ein Willkür-Regime

Diejenigen, die sich nach Selbstständigkeit sehnten, stellen fest, dass sie aus eigener Kraft kaum etwas zum Guten ändern können, „der Staat schafft dafür wieder nicht die Grundlagen“. Nach neuen Umfragen würden 65 Prozent der Wahlberechtigten keine der derzeit existierenden Parteien wählen. Diese große Gruppe enttäuschter Wähler will Konya ansprechen mit seiner Solidaritätsbewegung, die sich gerade selbst noch organisieren muss, die aus Kartons lebt und kaum Strukturen hat. Aber so wie die Aktiven seiner Bewegung gerade etwas versuchen, sollen das auch die Unzufriedenen draußen tun. „Wir wollen die Leute davon überzeugen, dass man selbst etwas dafür tun muss, dass dieses Land wieder eine gute Richtung einschlägt.“

So spricht Konya, klar heraus und deutlich. Mancher wünschte ihn sich auf die Kandidatenliste für kommende Wahlen. Zehntausende Menschen haben er und seine Szolidaritás in den vergangenen Wochen auf die Straßen gebracht, in 200 Orten wurden bereits Gruppen gegründet. Eine Partei aber, die Szolidaritás unterstützen könne, sieht er nicht. „Die muss erst noch erfunden werden.“

Dass die Richtung nicht stimmt, macht Konya vor allem an der Entrechtung der Menschen fest, daran, dass staatliche Garantien nicht mehr zählen, und daran, dass mit der neuen Verfassung „der demokratische Minimalkonsens aufgekündigt wurde“. Die gestattet beispielsweise, dass Angestellte im öffentliche Dienst ohne jede Begründung entlassen werden. Die Regierung hat den Tatbestand des „Vertrauensverlusts“ als Kündigungsgrund eingeführt. Auch das Verfassungsgericht – das sich gegen diese Regelung noch gestemmt hatte – wird nun umgebaut und teilweise entmachtet.

Peter Konya sieht das Mediengesetz, den neuen Nationalismus, die Besetzung einer Theaterdirektion mit einem Rechtsextremen auch als Probleme, aber eher als Höhepunkte einer viel fundamentaleren Fehlentwicklung. Er sieht sein Land auf dem Weg in ein Willkür-Regime, bei dem Bürokraten ohne Begründung Staatsleistungen verweigern können. Die Reichen würden dank der niedrigen Flattax schnell reicher, und zum Stopfen der Haushaltslöcher seien neue Abgaben erfunden worden, „die vor allem die Geringverdiener vermehrt belasten“.

Regierungschef Orban: Vom Liberalen zur nationalistischen Furie

Und was will Orban? Was hat er anzubieten – außer Allmacht, einem nationalistischen Ständestaat, Großungarn? Der Regierungschef selbst – der sich am Mittwoch in Straßburg seinen Kritikern stellte – spricht von einer „konservativen Revolution“, einem neuen Zeitalter. Und manchmal ist erkennbar, dass Orban ganz richtige Fragen aufwirft. Er analysierte die wirtschaftlichen und moralischen Verfehlungen seiner Vorgänger genau und richtig. Er stellt die Zins- und Schuldenlogik, deren Helfershelfer der IWF und die EU seien, infrage. Diese erzeugt vor allem bei noch recht schwachen Ländern eine tödliche Spirale, die nicht nur der Wirtschaft schadet, sondern den sozialen Frieden gefährdet. Er wehrt sich gegen Genfood und den Ausverkauf der „ungarischen Scholle“ und will die Landsleute auf Tradition und ein Gemeinschaftsgefühl einschwören.

Aber wenn alle Ideen so sehr dem Volke zugetan sind, warum dann diese Angst vor dem eigenen Volk? Warum die Kontrolle oder Gleichschaltung, warum ein Staatsfunk, warum überall Fidesz-Parteisoldaten auf den Posten, warum die kriegerische Rhetorik, all der Hass und das Zündeln bei den Nachbarn, wo er den ungarischen Minderheiten mit seinem neuen Nationalismus einen Bärendienst erweist?

Ungarn solle sich auf seine eigenen Kräfte besinnen, so das Credo des einstigen Wendehelden, der sich vom liberalen Patrioten zur nationalistischen Furie gewandelt hat. Nun steht er da mit den Haushaltslöchern und verkündet immer neue „nationale Strategien“. Gefährliche Stümperei nennt es die Opposition, selbst regierungsnahe Ökonomen fordern eine „neue Wirtschaftspolitik“. Doch was sind die Alternativen dazu?

Die Opposition findet auch keine Antworten. Bürgerbewegungen, neue Parteien sammeln sich erst. Sie ringen mit einer Verfassung, die mit ihren Gesetzen Ideologie zementiert und Nachfolgern das Regieren unmöglich macht. Auch die Szolidaritás steht ganz am Anfang. Und nicht nur das nützt Orban. Zwar gab er sich gestern vom Straßburger EU-Parlament konziliant, doch weiß er auch, dass dessen Druck in Ungarn nicht gerne gesehen wird. Dort ist der Eindruck entstanden, man beuge sich entweder dem eigenen Regenten oder einer noch unsympathischeren Finanzkontrollkoalition aus EU und IWF.

Marco Schicker

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