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Protestwelle: Armenien steht unter Schock

In der armenischen Hauptstadt Jerewan herrscht verordneter Ausnahmezustand: Seit dem Ende der Präsidentschaftswahlen war es zwischen Anhängern und Gegner des Wahlsiegers Sersch Sarkisjan und der Polizei zu blutigen Protesten gekommen.

Mindestens acht Tote, Dutzende Verletzte, zertrümmerte Schaufensterscheiben, umgestürzte und als Barrikaden genutzte Oberleitungs-Busse im Zentrum der Hauptstadt Jerewan und ein zunächst auf zwanzig Tage befristeter Ausnahmezustand. Das ist die bisherige Bilanz von Zusammenstößen zwischen Polizei und Protestlern, mit der die ehemalige Sowjetrepublik Armenien im Südkaukasus am Wochenende weltweit für Schlagzeilen sorgte. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch spricht von „unverhältnismäßigem Einsatz von Gewalt“, seit Montag versucht die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Konflikt zwischen Macht und Opposition zu vermitteln. Bisher ohne greifbare Ergebnisse.

Die Proteste begannen gleich nachdem die Zentrale Wahlkommission den bisherigen Premier Sersch Sarkisjan zum Sieger der Präsidentenwahlen am 19. Februar erklärte. Er bekam knapp 52 Prozent, der Zweitplatzierte Lewon Ter-Petrosjan 21 Prozent. Dieser war gleich nach der Souveränitätserklärung der Republik 1990 zum Präsidenten gewählt, 1998 jedoch durch eine Palastrevolution gestürzt worden. Als deren Drahtzieher fungierten damals Sarkisjan und der noch amtierende Präsident Robert Kotscharjan. Er durfte im Februar nicht mehr antreten, weil die Verfassung die Amtszeit des Staatschefs auf zwei aufeinander folgende Legislaturperioden begrenzt. Kotscharjan hatte die Kandidatur Sarkisjans unterstützt. Dessen Sieg galt als sicher, bis im Herbst eine Koalition von über 20 Oppositionspart einen Ex-Präsident Ter-Petrosjan als Gegenkandidaten aufstellte.

Zwar bezeichneten internationale Beobachter die Abstimmung als fair. Anhänger Ter-Petrosjans indessen sprechen von flächendeckenden Fälschungen und wollten mit einer Dauerdemonstration eine Wahlwiederholung erzwingen. Daran beteiligten sich zeitweise bis zu 200 000 Menschen. Am Samstag eskalierte der bis dahin friedliche Protest, es kam zu Feuergefechten und anderen Gewalttätigkeiten. Ordnungskräfte wie Opposition werfen einander vor, diese provoziert zu haben.

„Die Typologie ist die gleiche, aber der Grad der Spannungen ist höher als früher“, sagt Alexander Iskandarjan, Politologe in Jerewan. Keine der Wahlen seit 1995 sei von den Verlierern anerkannt worden, und immer sei es zu großen Demonstrationen gekommen. Durch den bevorstehenden Abtritt von Kotscharjan und die Rückkehr von Ter-Petrosjan sei es aber zu einer Polarisierung gekommen: „In wenigen Monaten ist es Ter-Petrosjan gelungen, all jene zu vereinigen, die gegen Sarkisjan waren: Intelligenzia, Jugendliche, Arbeitslose aber auch leicht Kriminelle“, so Iskandarjan. Das habe die Gesellschaft gespalten. Zudem habe Ter-Petrosjan „va banque“ gespielt: „Er wollte nichts außer der Präsidentschaft.“

Ex-Präsident Ter-Petrosjan ist umstritten. Ihm lasten viele die Härten beim Systemwechsel Anfang der Neunziger an. Mindestens ebenso viele fordern jedoch von seinen Nachfolgern die aus ihrer Sicht längst überfällige Einigung mit Aserbaidschan zu Berg-Karabach. Seit dem Krieg um die armenische Exklave auf dem Gebiet von Aserbaidschan sind die Grenzen zur Türkei und Aserbaidschan geschlossen. Mit katastrophalen Folgen für Armeniens hoch leistungsfähige, aber von Rohstoffimporten abhängige Wirtschaft. Ein Ende der Blockade ist ohne eine für Aserbaidschan akzeptable Lösung im Karabachkonflikt unwahrscheinlich. Die ist mit Armeniens neuem Präsidenten nicht zu haben: Sarkisjan stand einst den Milizen der Separatisten vor.

Momentan ist es zwar ruhig in Jerewan. Aber die Situation sei „sehr riskant“, so Iskandarjan. Die Menschen befänden sich „unter Schock“.

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