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Das System Erdogan - einerseits bejubelt, andererseits kritisiert.

© AFP

Protestwelle überrollt Erdogan: Türkei: Ministerpräsident ohne Plan

Erdogan hat noch kein Rezept gefunden, wie er dem Protest in seinem Land begegnen will. Der türkische Ministerpräsident wurde von dem Aufstand völlig überrascht. Eine längerfristige Strategie scheint er nicht zu haben.

Recep Tayyip Erdogan ist glücklich. Zehntausende mögen derzeit täglich auf die Straße gehen, um gegen ihn, den erfolgreichsten Ministerpräsidenten in der Geschichte der Türkei, zu protestieren. Deshalb ist dieser Auftritt im südtürkischen Adana am Sonntagmittag für Erdogan so tröstlich. Denn hier jubeln ihm tausende Anhänger begeistert zu, als habe er gerade einen erfolgreichen Feldzug hinter sich.

Er werde sich den "Plünderen" in der Protestbewegung nicht beugen, ruft Erdogan seinen jubelnden Wählen zu. Der 59-jährige wirkt frisch und kämpferisch. Der Zuspruch seiner Anhänger rührt ihn. Doch auch Erdogan spürt wohl, dass er sich sein Land in einer Art und Weise verändert, die er nicht vorhergesehen hat. Noch hat Erdogan kein Rezept gefunden, wie er der Herausforderung begegnen will.

Im Gezi-Park von Istanbul zelten inzwischen mehrere tausend Menschen. Der brutale Polizeieinsatz gegen das ursprüngliche Sit-In der Umweltschützer im Park löste eine noch die dagewesene Lawine der Solidarität aus.

Sogar die Fans der rivalisierenden Fußballclubs Besiktas und Galatasaray marschierten am Samstagabend in trauter – und lautstarker – Eintracht zum Gezi-Park, um ihre Unterstützung für die Protestbewegung zu bekunden. Vor ein paar Wochen wäre so etwas undenkbar gewesen. Jetzt verkaufen Straßenhändler Fußballschals mit den Emblemen aller drei Istanbuler Groß-Vereine: Neben den Logos von Besiktas und Fenerbahce findet sich darauf auch das von Meister Galatasaray.

Im Zentrum der Kritik steht Erdogan, dem von den Demonstranten vorgeworfen wird, er führe sich auf wie ein Diktator. „Die Leute haben die Nase voll“, sagt ein Barkeeper in einer Istanbuler Kneipe. „Es wurde höchste Zeit.“

Erdogan ist von dem Aufstand völlig überrascht worden. Noch vor zehn Tagen war er der gefeierte Held eines Landes, das in den vergangenen zehn Jahren vom europäischen Armenhaus zum Mitglied der G-20 wurde, zum "anatolischen Tiger" aufstieg, wie der "Spiegel" es formulierte. Ein Land, in dem eine ganz neue Mittelschicht entstanden ist, die sich zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei einen europa-ähnlichen Lebensstandard leisten kann. Die Zahl der Autos auf türkischen Straßen hat sich unter Erdogan verdoppelt.

Und jetzt? „Erdogan hat das Volk gespalten“, sagt ein junger Mann im Gezi-Park, der seinen Namen nicht nennen will. Das britische Magazin "The Economist" zeigt Erdogan auf der Titelseite als osmanischen Sultan.

Zuletzt hatte Erdogan seine Gegner mit einem restriktiven Alkohol-Gesetz erschreckt, mit öffentlichem Nachdenken über ein Verbot der Abtreibung, mit Bemerkungen über eine "fromme Jugend", die er im Land sehen will. Ausdrücke von Normalität für ihn und seine frommen Anhänger, Horrorszenarien für Millionen anderer Türken. Wenn er beim Thema Gezi-Park einknicke, dann werde er Probleme mit seine Wählerbasis bekommen, die Kurshalten verlange, hat Erdogan gesagt. Deshalb die harschen Worte in Adana, die bei seinen Anhängern ganz besonders gut ankommen.

Doch Erdogan kann auch anders. Zu den Erfolgsrezepten des Premiers gehört eine taktische Geschmeidigkeit, die es ihm erlaubt, prinzipienfest und kompromissbereit zugleich zu erscheinen. Keine zwei Tage vor seiner kämpferischen Rede in Adana hatte Erdogan bei einer Konferenz mit EU-Vertretern in Istanbul noch ganz anders geklungen.

Dort nannte Erdogan die Umweltschützer unter den Park-Demonstranten "meine Brüder", die ihre Ziele am besten mit ihm selbst verwirklichen könnten. Schließlich habe keine andere Regierung der Türkei so viele Bäume gepflanzt wie seine. "Wenn ihr was für die Umwelt tun wollt, dann kommt, tut es zusammen mit eurem Ministerpräsidenten."

Diese Einladung wollen die Leute im Gezi-Park natürlich nicht ohne weiteres annehmen, nach allem, was Erdogan in letzter Zeit gesagt und getan hat. Der Premier versucht, bei den eigenen Leuten Stärke zu zeigen, ohne die Situation im Park weiter eskalieren zu lassen. Eine längerfristige Strategie ist hinter diesem Krisenmanagement nicht zu erkennen.

Doch dass der Mann ein Phänomen ist, das geben auch viele Demonstranten zu. Erdogan habe auch Gutes getan, etwa in der Gesundheitspolitik, sagt ein Demonstrant vor seinem Zelt im Gezi-Park. Und unterschätzen will er den Ministerpräsidenten auf keinen Fall: "Er ist ganz schön gerissen."

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