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Prozess gegen Verena Becker: Urteil ohne Wahrheit

So viel hat man sich von diesem Prozess erwartet. Endlich Aufschluss über den Mord an Buback. Doch die Richter fanden nur eines heraus: Verena Becker war nicht die Täterin. Und die es wissen, schweigen.

Die steht nun ganz ruhig da zwischen schwarzen Tischreihen. Ein wenig nach vorne gebeugt, wie es ihre Art ist. Ihr gegenüber die Phalanx der Richter, in der Mitte der Vorsitzende, der das Wort an sie richtet.

Der wohl letzte Prozess gegen ein ehemaliges Mitglied der RAF endet mit einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Nach Härteausgleich und Abzug der Untersuchungshaft bleiben 14 Monate. Der 6. Strafsenat am Oberlandesgericht Stuttgart sieht es als erwiesen an, dass die 59-Jährige vor 35 Jahren andere RAF-Mitglieder in ihrem Willen bestärkt hat, den Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine beiden Begleiter am 7. April 1977 in Karlsruhe zu ermorden. Die Richter würdigten dies als psychische Beihilfe. Michael Buback lässt sich die Niederlage in diesem Moment nicht anmerken. Wer seinen Vater erschossen hat, hat ihm das Gericht nicht beantwortet.

„Ihr Nazischweine! Scheiße! Ihr Schweine!“ Als Verena Becker zuletzt vom Oberlandesgericht Stuttgart schuldig gesprochen wurde, tobte sie. Das war im Dezember 1977. Die Richter verurteilten die damals 25-jährige RAF-Terroristin unter anderem wegen versuchten Mordes an sechs Polizisten zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.

Seither ist viel passiert. Die RAF gibt es nicht mehr. Ihre einstigen Mitglieder arbeiten heute als Buchhalter und Kraftfahrer oder leben von Hartz IV. Manche von ihnen versuchen, ihre Vergangenheit therapeutisch aufzuarbeiten. Verena Becker interessiert sich für spirituelle Orakelwissenschaft, leidet an chronischem Rheuma.

Video: Vier Jahre für Becker

Die „historische Wahrheit“, um die es dem Vorsitzenden Richter Herrmann Wieland geht, hat er, hat die Gesellschaft nicht erfahren. Wer hat Siegfried Buback erschossen? Diese Frage konnte das Gericht auch nach 97 Sitzungstagen, 21 Monaten Verhandlung, 165 Zeugenvernehmungen und dem Studium von rund 25.000 Aktenseiten nicht beantworten. Verena Becker war es nicht. Das zumindest hat der Prozess ergeben.

So viel hatte sich Michael Buback zum Auftakt des Prozesses im September 2010 von dem Verfahren des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart versprochen. Endlich Aufschluss darüber, wer am 7. April 1977 auf dem Motorrad gesessen hatte, das an einer Ampelkreuzung in Karlsruhe von hinten an den Wagen des Generalbundesanwalts herangefahren war. Wer vom Soziussitz aus das Feuer auf Buback, seinen Fahrer Wolfgang Göbel und den Justizbeamten Georg Wurster eröffnet hatte.

Wegen des Attentats waren bislang nur Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und Knut Folkerts verurteilt worden. Mohnhaupt soll die Anführerin im Hintergrund gewesen sein, Klar das Fluchtauto gefahren und Folkerts den Anschlag mit vorbereitet haben. Auch Günter Sonnenberg galt als Haupttäter, war jedoch wegen anderer Taten verurteilt worden. Den Gerichten genügte damals der Grundsatz der Mittäterschaft, auf den Nachweis einer individuellen Tatbeteiligung verzichteten sie. Als es die RAF noch als aktive Zelle gab, ging es darum, die Terroristen irgendwie hinter Gitter zu bringen.

Heute bemühen sich die Richter um ein differenzierteres Urteil.

Heute bemühen sich die Richter um ein differenzierteres Urteil. Doch zur Aufarbeitung der Geschichte der RAF taugt ein Strafverfahren nicht, auch das hat es gezeigt.

Für Michael Buback bleibt Verena Becker die Mörderin seines Vaters. Mit dieser Überzeugung ging er als Nebenkläger in den Prozess, mit ihr geht er auch wieder heraus. Er kenne die Wahrheit, urteile das Gericht, wie es wolle. Zahlreiche Zeugen – nach seiner persönlichen Zählung sind es 27 – hätten eine zierliche Person, wahrscheinlich eine Frau auf dem Motorrad gesehen. Darunter mittlerweile verstorbene Zeugen, Zeugen vom Hörensagen, Zeugen, die sich heute nicht mehr an eine Frau erinnern. Becker sei des Mordes überführt, sagt Buback.

Ihm dabei zuzuhören geht nicht anders als mit dem Bild einer großen Verschwörung im Kopf. „Frau Becker hat viel Glück gehabt – und mächtigere Verbündete, als ich sie habe und vor allem als mein Vater sie hatte“, sagte Buback in seinem Plädoyer und schaute sie dabei mit einem unergründlichen Lächeln direkt an. Es ging ihm wieder um den Vorwurf, Becker habe das Attentat unter den Augen der Geheimdienste verübt. Oberstaatsanwältin Silke Ritzert hielt sich die Hände vors Gesicht und schüttelte irgendwann nur noch den Kopf. Da redete sich einer um den Verstand, sollte das heißen. Verena Becker hörte es sich an, ohne eine Reaktion zu zeigen.

Als sie im Mai 1977 mit Sonnenberg gestellt wurde, hatte sie die Tatwaffe im Gepäck. Aber angeklagt wurde sie nicht wegen des Buback-Attentats. Ihr Lebenslang erhielt sie, weil sie bei ihrer Festnahme auf Polizisten geschossen hatte.

Im Zuge des Gnadenersuchs von Christian Klar fragte Michael Buback 2007 öffentlich nach dem Namen des Mörders seines Vaters. Peter-Jürgen Boock nannte ihm Stefan Wisniewski. Die Bundesanwaltschaft suchte nach DNA-Spuren auf den Asservaten und fand Beckers Speichel an den Bekennerschreiben. Hinzu kamen persönliche Notizen, in denen sie von „Schuld“ und „Täterwissen“ schrieb. Verena Becker wurde wegen Mittäterschaft angeklagt. Zum Schluss fehlten auch der Bundesanwaltschaft dafür die Beweise. Becker sagte vor Gericht, sie sei am Tattag in Bagdad gewesen. Das entscheidende Vorbereitungstreffen der RAF habe sie vorzeitig verlassen.

Die Gesichter der RAF:

Der Senat glaubt ihr das nicht. Verena Becker habe die Täter in ihrem Willen zur Tat bestärkt. So habe sie sich bei einem Treffen der RAF-Mitglieder in Holland zum Jahreswechsel 1976 / 77 massiv für den Anschlag auf Buback eingesetzt. Becker habe zur Führungsriege der RAF gehört. Und sie habe mit Zähigkeit und Vehemenz die Linie der in Stammheim inhaftierten ersten RAF-Generation verfolgt. Deren Parole lautete: „Der General muss weg!“

Aber was beweist das? Die Vorbereitung und Durchführung einer Aktion ohne vorangegangenen einstimmigen Entschluss widerspreche dem Selbstverständnis der RAF, so hatten es Peter-Jürgen Boock und andere frühere RAF-Mitglieder gesagt. Davon ist auch das Gericht überzeugt. Es hält an Boock als wichtigstem Zeugen der Anklage fest. Widersprüche in seinen Angaben, auf die die Verteidigung wiederholt hingewiesen hat, seien als „Erinnerungs- und Wahrnehmungsfehler“ zu erklären, rührten aber nicht an seiner grundsätzlichen Glaubwürdigkeit.

Verena Becker wegen Beihilfe zu verurteilen komme einer „Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeit“ gegenüber anderen früheren RAF-Terroristen gleich, sagte Buback in seinem Plädoyer. Würde Becker verurteilt, müssten Anklagen gegen weitere frühere Mitglieder folgen. Tatsächlich sind nach Erkenntnissen der Ermittler etwa 15 bis 20 RAF-Mitglieder in irgendeiner Weise am Attentat beteiligt gewesen. Das machte schon die umfangreiche Logistik – konspirative Wohnungen, Waffen, gefälschte Papiere – erforderlich.

Seit 2007 wird gegen Stefan Wisniewski ermittelt. Nicht nur Boock soll ihn als Todesschützen genannt haben. Auch Verena Becker soll dies dem Verfassungsschutz schon Anfang der 80er Jahre mitgeteilt haben. Zu einer Anklage gegen Wisniewski wird es wohl dennoch nicht kommen. Das Verfahren würde voraussichtlich noch in diesem Jahr eingestellt, heißt es seitens der Bundesanwaltschaft. Mutmaßungen reichten nicht für eine Anklage. Auch ein Ermittlungsverfahren gegen Boock wurde wieder eingestellt. Würden weitere Verfahren die Taten der RAF aufklären helfen?

Exterroristen, die als Zeugen aussagen sollen, verweigern dies meistens.

Diejenigen, die wissen, verraten nichts. Wem Strafe droht, wenn er spricht, der schweigt. Mord verjährt nicht. Die meisten Exterroristen geben auf beinahe jede Frage des Gerichts die immergleiche Antwort: „55“. Nach Paragraf 55 Strafprozessordnung dürfen Zeugen die Aussage verweigern, wenn sie Gefahr laufen, sich selbst zu belasten.

„Kennen Sie Frau Becker?“

„55.“

„Wo waren Sie am 7. April 1977 und mit wem?“

„55.“

„Wer saß auf dem Soziussitz und hat geschossen?“

„55.“ Christian Klar wählt die Variante: „Keine Angaben.“ Und vor dem Gerichtsgebäude entrollen ein paar Sympathisanten ein Transparent: „Keine Zusammenarbeit mit Justiz und Staatsapparat“.

Die Opfer der RAF:

Becker hat Anfang der 80er mit dem Verfassungsschutz kooperiert, wie die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer bestätigt hat. Becker soll das damals viel Ärger mit ihren früheren Gesinnungsgenossen eingebracht haben. Es war der Beginn ihrer Abkehr von der RAF. In ihrem Gnadengesuch von 1989 schreibt sie über ihren mühevollen Weg zur Einsicht. „Ich musste durch meine eigene Hölle gehen.“ Und weiter: „Wie sollte es auch anders sein, wenn man sich von Überzeugungen, die man mit so einer unerbittlichen Konsequenz verfolgt hat, langsam löst.“ Sie spricht von Irrtümern und Leiden, die sie verursacht habe. Und von der Notwendigkeit, „insbesondere den Gefühlen der Opfer Respekt zu erweisen und meiner persönlichen Verantwortung gerecht zu werden“.

Auch einige der früheren RAF-Mitglieder, die vor Gericht schweigen, waren andernorts gesprächig. Falls er Michael Buback jemals begegnen sollte, sagte Knut Folkerts dem „Spiegel“, dann würde er ihm sagen, „dass ich sein persönliches Leid – wie das aller Angehörigen von RAF-Opfern – bedauere“. Als Zeuge vor Gericht schafft es der 60-Jährige nicht, Michael Buback nur anzusehen.

Sie sei sich bewusst, dass ihre Taten unentschuldbar seien, hat Brigitte Mohnhaupt kurz vor ihrer Haftentlassung gesagt. Der Verlust eines Menschen sei das Schlimmste, was man jemandem antun könne. Die 61-Jährige wird wissen, wer Siegfried Buback erschossen hat. Als sie im März 2011 im Zeugenstand sitzt, lässt Richter Wieland nicht locker. Er appelliert an ihr Gewissen, ihre Moral. Vergebens. Schließlich sagt sie den bemerkenswerten Satz: „Das ist hier nicht der Ort, darüber zu reden.“

Gäbe es demnach einen anderen Ort, an dem die RAF reden würde? Vielleicht außerhalb des Gerichtssaals, außerhalb der Strafjustiz.

Strafverzicht für die Wahrheit? Amnestie für ein Ende des Schweigens? Kann eine Gesellschaft darauf verzichten, einen Menschen zu bestrafen, der gemordet oder dabei geholfen hat?

Wir wollen nur die Wahrheit wissen“, sagt Michael Buback auch am Freitag. „Das Urteil ist für uns von ganz nachrangiger Bedeutung.“ So hat er es schon in seinem Schlussvortrag gesagt. Ina Beckurts saß damals wie auch an diesem Tag im Gerichtssaal. Ihr Mann, Siemens-Manager Karl Heinz Beckurts, starb am 9. Juli 1986 durch einen Bombenanschlag. Auch diese Tat der RAF ist nicht aufgeklärt. Ina Beckurts hat Michael Buback nach seinen Worten applaudiert.

Ob Verena Becker nun, nachdem das Urteil ergangen ist, tatsächlich noch einmal ins Gefängnis muss, ist offen. Von der Strafe gelten zweieinhalb Jahre bereits wegen einer früheren Verurteilung als abgegolten. Eine vorzeitige Entlassung ist in der Regel nach zwei Dritteln, unter Umständen sogar nach der Hälfte der Haftzeit möglich. Zudem saß Becker bereits vor Prozessbeginn rund vier Monate lang in Untersuchungshaft, was anzurechnen ist. Deshalb könnte es sein, dass Becker die Strafe nicht antreten muss. Hierüber kann die Strafvollstreckungskammer erst entscheiden, wenn das Urteils rechtskräftig ist.

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