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Prozess: Türkische Nationalisten vor Gericht

Die Angeklagten sollen einen Putsch geplant haben. Der Prozess, der für die Türkei mehr Freiheit bringen soll, findet nun im größten Gefängnis Europas statt.

In der Haftanstalt von Silivri, einer Stadt westlich von Istanbul am Marmara-Meer, beginnt am Montag das Verfahren gegen einen ehemaligen General und 85 weitere Nationalisten, die als Mitglieder der Terrorgruppe „Ergenekon“ einen Umsturz gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan geplant haben sollen. Fast alles an diesem Prozess ist monumental. Das Gefängnis von Silivri, das Platz für fast 11 000 Häftlinge hat, wurde wegen seiner Geräumigkeit und seiner modernen Ausstattung für den Prozess ausgewählt. Die „Ergenekon“-Anklageschrift der Staatsanwaltschaft umfasst 2500 Seiten, das Beweismaterial füllt mehr als 440 Aktenordner.

Die Staatsanwälte erwirkten Haftbefehle gegen einige der prominentesten Nationalisten des Landes, die jetzt mit lebenslangen Haftstrafen rechnen müssen. Die Liste der Angeklagten, von denen 46 in Untersuchungshaft sitzen, liest sich wie ein Who is Who radikaler türkischer Reformgegner. Da ist Ex-General Veli Kücük, der an der Spitze von „Ergenekon“ gestanden haben soll. Da ist der Rechtsanwalt Kemal Kerincsiz, der Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk wegen „Beleidigung des Türkentums“ vor den Kadi brachte. Da ist Dogu Perincek, der Chef einer nationalistischen Splitterpartei, der 2007 wegen Leugnung eines türkischen Völkermordes an den Armeniern in der Schweiz vor Gericht stand. Zwei weitere ehemalige Generäle sollen ebenfalls zu „Ergenekon“ gehören.

Laut Staatsanwaltschaft sammelte die „Ergenekon“-Gruppe Waffen und Sprengstoff für Anschläge, ordnete Morde an und bereitete andere Gewaltakte vor. Pamuk berichtete, er sei Anfang des Jahres über einen gegen ihn gerichteten „Ergenekon“-Mordplan unterrichtet worden. Die Anklage gegen die Hauptbeschuldigten lautet auf Gründung einer Terrororganisation sowie auf bewaffneten Umsturzversuch. Durch ihre Gewalttaten habe „Ergenekon“ die Türkei ins Chaos stürzen und einen Militärputsch provozieren wollen. In der Anklageschrift wird die Gruppe unter anderem mit dem Mord an einem Richter des Obersten Verwaltungsgerichts in Ankara 2006 in Verbindung gebracht: Die Bluttat wurde damals als Aktion eines Islamisten präsentiert, der gegen das Kopftuchverbot protestieren wollte – mit solchen Verbrechen sollte die islamisch geprägte Regierung Erdogan in Verruf gebracht werden. Getrieben wurde die Bande von dem Gedanken, dass Atatürks Staat mit allen Mitteln vor Kritik und nötigenfalls auch vor der Regierung geschützt werden muss. Diese Ideologie des sogenannten „tiefen Staates“ steht ab Montag mit vor Gericht. Das Verfahren wird deshalb schon jetzt als Meilenstein gewertet: Zum ersten Mal geht die Justiz energisch gegen den „tiefen Staat“ vor und schreckt dabei auch nicht vor der Verhaftung ehemaliger Generäle zurück. Allein die Tatsache, dass der Prozess überhaupt zustande gekommen sei, bilde einen „Wendepunkt für die Demokratie und das Recht in der Türkei“, schrieb der angesehene Kolumnist Hasan Cemal. 

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