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Pogida-Demonstranten mit einem Banner "Wir lassen uns nicht länger belügen - Wir sind das Volk" im Januar auf dem Bassinplatz in Potsdam.

© Ralf Hirschberger/dpa

Radikaler Protest über Sachsen hinaus: Warum viele die Demokratie missverstehen

"Wir sind das Volk", rufen sie bei Pegida oder kürzlich in Clausnitz. Wie viele radikale neue Protestbewegungen offenbaren die Demonstranten damit, dass sie keine Freiheit kennen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Peter von Becker

Auch Menschen, die sich in den USA ein wenig auszukennen meinen, schütteln seit Jahren den Kopf über die extreme Polarisierung des Landes. Tea Party, fanatischer Fundamentalismus, überwunden geglaubte Rassismen, grassierende Irrationalität, größenwahnsinniger Turbokapitalismus – und demgegenüber das Freiheitsversprechen einer aufgeklärten, in Wirtschaft und Wissenschaften führenden Nation.

Die amerikanische Gesellschaft, die man im Großen und Ganzen noch immer in einem gemeinsamen, einschmelzenden „way of life“ verbunden glaubt, hat in sich so extreme Gräben aufgerissen, dass „Liberals“ wie der noch amtierende Präsident als Vaterlandsverräter und Kommunisten beschimpft werden; dass ein pöbelnder Extremist wie Donald Trump (neben dem selbst Silvio Berlusconi noch ein Ausbund an kultivierter Dezenz war) nun als Präsidentschaftsbewerber reüssieren kann. Aber, dachten viele, hier bei uns wär’ das unmöglich!

Es ist möglich. Sachsen am vergangenen Wochenende ist nur ein weiteres Signal: Formen von Aufruhr, die Amerikaner „riots“ nennen, gibt es in Deutschland bald jeden Tag, jede Nacht. Und die Sprache von Hass und Gewalt, von Undifferenziertheit, Fühllosigkeit und Anmaßung dröhnt aus allen Netzen, auch aus Mikrofonen von Politikern und Polizeioberen.

Das alles hat sich seit etwa anderthalb Jahren so schwer begreiflich verstärkt, dass schnelle Erklärungen kaum noch weiterführen. In Teilen der deutschen wie der übrigen europäischen Gesellschaft nistet offenbar ein Empfinden der tiefen Verunsicherung. Grenzübergreifende Schocks, Tschernobyl, Fukushima, Nine-Eleven, Finanzcrash, Klimawandel, Eurokrise, näherrückende Kriege, Flüchtlingsströme, Terroranschläge, mentale (verdrängte) Erbschaften totalitärer Diktaturen, Bildungsmiseren, Identitätsprobleme und Illusionen – alles hängt irgendwie mit allem zusammen.

Dunkeldeutschland existiert - doch nicht allein

Aber auch das gibt es: Nicht alle finden alles so katastrophal, sondern arbeiten, helfen, erfinden, verbessern, lieben sich und andere, haben Kinder und sehen die Zukunft nicht nur dunkel.

Dunkeldeutschland existiert, wie ein dunkles Frankreich, Amerika usw., wie überall der Schatten hinter dem Licht. Und so schwer, die Erleuchtung oft ist – im Sinne von Aufklärung, von „enlightenment“ –, so einfach können Einsichten auch von Recht und Unrecht, von Gut und Böse sein.

Wenn ein pöbelnder Mob einen Bus mit Frauen, Männern, Kindern, mit offensichtlich verschreckten Flüchtlingsfamilien umlagert und ihnen als Drohung entgegengrölt „Wir sind das Volk!“, dann ist das ein grausiges Dokument und der Versuch einer unfähigen Polizei, die Opfer hinterher als provozierende Täter darzustellen, ein Tiefpunkt. So, als herrsche in Sachsen tatsächlich noch ein Unrechtsstaat. Doch zum Einfachen: Der anmaßende Ruf der Fremdenfeinde ist nicht nur der pegidanische Missbrauch des einstigen Bürgerrechts-Slogans. Er soll vielmehr bedeuten, wir, die Protestierer, sind der eigentliche demokratische Souverän. Wir sind die aufschreiende Vorhut der zu lange schweigenden Mehrheit.

Ohne die Rechte der Minderheit herrscht nur die Demokratur

Dies freilich zeigt wie bei so vielen radikalen neuen Protestbewegungen ein grundlegendes Missverständnis von Demokratie. Denn rechtsstaatliche Demokratie bedeutet nicht einfach die Macht der Mehrheit, sondern ebenso: den Schutz der Minderheit. Ohne die Rechte der Minderheit (um politisch einmal die Mehrheit werden zu können) herrscht nur die Demokratur – wie in Deutschland zu Hitlers populärsten Zeiten. Wie bei Mao oder Khomeini.

Auf ganz andere, auf weltpolitisch aktuelle Weise hat hierauf gerade der Dichter Adonis bei seiner Rede zum Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis in Osnabrück hingewiesen. Der syrisch-libanesische Preisträger war zuvor angegriffen worden, weil er sich nicht klar vom syrischen Machthaber Assad distanziert habe. Nun aber hat Adonis unmissverständlich seine Stimme gegen „die Tyrannei des Regimes“ erhoben – aber auch dagegen, dass keine der dort kämpfenden Oppositionsparteien für Gewaltenteilung, die Gleichstellung von Frauen, Religionsfreiheit oder andere elementare demokratische Menschenrechte eintrete. Keine. Auch der Westen unterstütze nur reaktionäre Bewegungen, denn die wenigen arabischen Demokraten hätten keine Waffen.

Nicht nur Flüchtlinge aus undemokratischen Gesellschaften bedürfen der Hilfe und integrativen Aufklärung über etwas, was sie bisher kaum kennen. Auch die deutsche Minderheit, die sich als schreiende Mehrheit fühlt, müsste erst lernen, wo Demokratie und Menschenrechte beginnen.

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