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Politik: Rebellion auf Befehl

Im Osten des Landes drohen einige Regionen mit Abspaltung – der Protest ist gelenkt, sagen Diplomaten

Selbst die tief ins Gesicht gezogene Wintermütze schützt den blonden Sänger nicht vor seinen Fans. „Oleg!“, ertönen in einem Nobel-Cafe am Kiewer Unabhängigkeitsplatz spitze Mädchenschreie, während sich der populärste Rock-Star der Ukraine Autogramme kritzelnd den Weg zu den Barhockern bannt. Schon zu Sowjetzeiten hatte Oleg Skripta als Erster ukrainischsprachige Texte gesungen. Hatte das Rock-Idol nach der Unabhängigkeit seine Dienste um des lieben Geldes willen bei Wahlkampfveranstaltungen selbst zwielichten Oligarchen-Parteien zur Verfügung gestellt, greift er bei der seit einer Woche währenden Oppositionsparty in der Hauptstadt umsonst und fast täglich zum Mikrofon.

Auch nach einer Woche lassen die Oppositionsproteste in der ukrainischen Hauptstadt nicht nach. Mit orangefarbenen Schals und Flaggen posieren auf dem Unabhängigkeitsplatz ganze Busladungen von Revolutionstouristen aus der Provinz zum Erinnerungsfoto. Mit einer halben Million Demonstranten wurde am Wochenende ein neuer Rekord erreicht. „Ruht euch ein wenig aus, morgen werdet ihr vor dem Gericht gebraucht, um den Richtern die Kraft für ein gerechtes Urteil zu geben!“, mahnte am Sonntag selbst Oppositionsführerin Julia Timoschenko zu einer Atempause: Am heutigen Montag wird das Oberste Gericht über die Klagen gegen die verfälschte Wahl befinden.

Nur am Samstagvormittag schien sich im Lager der Opposition etwas Ernüchterung breit zu machen. In den Verhandlungen hatte Juschtschenko zur Enttäuschung vieler Anhänger ein Ende der Blockaden der Ministerien zugesagt, gleichzeitig der Schaffung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe mit seinem Rivalen Janukowitsch und Skandalpräsident Leonid Kutschma zugestimmt. Doch die Furcht, dass Ränkeschmied Kutschma mit langwierigen Verhandlungstricks wieder Oberwasser gewinnen könnte, erwies sich als unbegründet. Bereits am Nachmittag errang die Opposition mit der rechtlich allerdings nicht bindenden Annullierung des Ergebnisses durch das Parlament einen wichtigen Etappensieg. Es gebe auf der Seite der Opposition „keinen guten Willen“, erregt sich am Sonntag Kutschma über die anhaltenden Blockaden.

Während Juschtschenko eine Neuauflage des verfälschten Urnengangs noch im Dezember fordert, versucht der unter Druck geratene Janukowitsch, in seiner ostukrainischen Heimat eine neue Drohkulisse aufzubauen. Zehntausende seiner Anhänger ziehen im Donbass mit weiß-blauen Schals über die Straßen. Die Gouverneure einiger russischsprachigen Oblaste im Osten und Süden des Landes drohen gar mit einem Referendum zur möglichen Abspaltung bei einer Machtübernahme der Opposition. Die Proteste seien gesteuert, die Oligarchen im Osten als Finanziers der örtlichen Politiker keineswegs an einer Spaltung des Landes und einer Zukunft des Donbass als russische Peripherie interessiert, wiegeln Diplomaten in Kiew ab: Allerdings sei die Drohung mit der Separation ein „Spiel mit dem Feuer“. Zumindest am Bahnhof von Kiew ist indes bei den herangekarrten Janukowitsch-Anhängern von feindseligen Absichten kaum etwas zu spüren. Einträchtig und friedlich diskutieren die Menschen mit den hellblauen oder orangefarbenen Armbinden über die Zukunft ihres Landes. Er habe zehn Jahre als Kumpel unter Tage gearbeitet, sagt der Donetzker Ladenbesitzer Vadin Timoschokewitsch und gibt sich als Juschtschenko-Anhänger zu erkennen. „Wenn die Leute bei uns keine Angst mehr haben, werden selbst Janukowitsch-Anhänger für die Einheit der Ukraine auf die Straße gehen.“

Thomas Roser[Kiew]

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