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Politik: Rechtsextreme Gewalt: Unheimlich still und leise (Leitartikel)

Etwas stimmt nicht in diesem Land. Dabei haben die Deutschen durchaus Grund, stolz und gelassen zu sein.

Etwas stimmt nicht in diesem Land. Dabei haben die Deutschen durchaus Grund, stolz und gelassen zu sein. Ihre Demokratie ist stabil. Aus ihrer Vergangenheit haben sie gelernt. Eine rot-grüne Bundesregierung hat das Staatsbürgerschaftsrecht modernisiert. Die Zwangsarbeiter werden entschädigt, ein Holocaust-Mahnmal wird gebaut. Hier haben Rechtspopulisten, wie sie sich in anderen Ländern tummeln - Jörg Haider, Jean-Marie Le Pen, Silvio Berlusconi -, bislang keine Chance. Und fast könnte man es ein Wunder nennen: Als heute vor 50 Jahren in Frankfurt am Main der Zentralrat der Juden gegründet wurde, rechnete niemand damit, dass es eines Tages wieder eine blühende jüdische Gemeinde in Deutschland gibt, dass Deutschland für Juden attraktiv ist, dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland weltweit am schnellsten wächst.

Trotzdem stimmt etwas nicht in diesem Land. Paul Spiegel, der bedächtige, eher zurückhaltende Präsident des Zentralrats der Juden, sagt jetzt, "der Wind bläst uns so stark entgegen wie noch nie in den letzten 50 Jahren". Was ist das? Alarmismus? Oder spürt Spiegel Stimmungen, die andere nicht mehr spüren? Hört er Stimmen, die andere nicht mehr hören? Zweifellos klafft zwischen der offiziellen Politik und der Wahrnehmung dieser Politik eine große Lücke. Wenn das deutsche Parlament beschließt, ein Holocaust-Mahnmal zu bauen, meint der Stammtisch, die Juden hätten sich durchgesetzt. Wenn das deutsche Parlament die Entschädigungszahlungen für Zwangsarbeiter beschließt, meint der Stammtisch, davon würden in erster Linie Juden profitieren. Nichts davon ist wahr, doch Ressentiments sind faktenresistent. Wer ein Amt wie Paul Spiegel hat, erfährt das täglich.

Aber er erfährt noch etwas: Eine seltsame neue Ruhe hat sich ausgebreitet, ein beunruhigendes Schweigen durchzieht das Land. Anfang der neunziger Jahre war das anders. Auch damals brannten Asylbewerberheime, auch damals wurden Ausländer verprügelt und jüdische Friedhöfe geschändet. Doch immerhin war ein beträchtlicher Teil der Öffentlichkeit empört, und in den Medien funktionierten die Reflexe. Gewalttätiger Rechtsextremismus, das war neu. Der Verdacht lag über dem wiedervereinigten Land, es habe seine Größe nicht im Griff. Schlagworte wie "Weimar" und "Viertes Reich" lagen in der Luft. Also musste gehandelt werden. Deutschland wollte sich selbst und der Welt beweisen, dass es anders geworden ist. Das Land wollte zeigen, dass es die Gespenster der Vergangenheit gebannt hat.

Das ist gelungen. Nur noch wenige Menschen glauben, das demokratische System der Bundesrepublik sei durch den Rechtsextremismus in Gefahr. Die Alarmisten von einst wurden überzeugend widerlegt. Aber vielleicht ist es deshalb jetzt so still. Vielleicht sind deshalb die Nachrichten über erschlagene Ausländer oft auf Meldungsgröße geschrumpft. Vielleicht erregt sich deshalb kaum noch jemand über "national befreite Zonen". Vielleicht wirkt deshalb die Verdrängung des Problems nicht besonders elektrisierend. Ein Verdacht drängt sich auf: Mit einem Rechtsextremismus, der zwar gelegentlich tödlich ist, aber die Demokratie nicht gefährdet, kann man sich offenbar arrangieren. Wie es scheint, hat die Beruhigung darüber, dass das demokratische System weiterhin reibungslos funktioniert, die humanen Reflexe erstickt.

Die Debatte über den Rechtsextremismus, der heute mindestens ebenso virulent ist wie in der ersten Hälfte der neunziger Jahre, pendelt periodisch hin und her - zwischen geschichtsapokalyptischer Vision und humanitätsvergessener Verharmlosung. Der Raum dazwischen ist viel zu klein. Denn ein verprügelter Ausländer sollte uns nicht erst dann empören, wenn wir Deutschland in den Faschismus abgleiten sehen. Rechtsradikale Banden sind nicht erst dann zu bekämpfen, wenn sie zum Standortnachteil zu werden drohen. Und: Soziale Benachteiligungen mögen eine Rolle spielen, aber soziale Maßnahmen dürfen die Härte des Gesetzes nicht ersetzen.

Etwas stimmt nicht in diesem Land. Paul Spiegel hat das erkannt. Die Demokratie ist stabil. Aus ihrer Vergangenheit haben die Deutschen gelernt. Aber die Ausprägung der Humanität hat mit dieser Entwicklung nicht Schritt gehalten.

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