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Politik: Rechtsextremismus: "Die Gefährdung reicht bis in die Mitte der Gesellschaft". Aus der Rede von Wolfgang Thierse

Was ist neu am Ende dieses Sommers? Nach Wochen und Monaten, in denen die deutsche Öffentlichkeit aufgeregt, empört, entsetzt über Intoleranz, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und extremistische Gewalt diskutiert hat, haben wir etwas gelernt.

Was ist neu am Ende dieses Sommers? Nach Wochen und Monaten, in denen die deutsche Öffentlichkeit aufgeregt, empört, entsetzt über Intoleranz, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und extremistische Gewalt diskutiert hat, haben wir etwas gelernt. Haben wir wirklich etwas gelernt? Oder war das Ganze nur ein mediales Sommertheater? Ich hoffe es nicht. Denn neu ist nichts. 93 Tote, 93 Opfer rechtsextremistischer Gewalt hat es in den letzten zehn Jahren in Deutschland gegeben. Das haben zwei Zeitungen dokumentiert ... Ich sage nicht, dass Deutschland ein rechtsextremistisches Land ist, dass die Deutschen ein ausländerfeindliches Volk sind. Das wäre nicht nur schlicht falsch, sondern eine Beleidigung für die übergroße Mehrheit der Deutschen ... Aber in dieser Zeit haben wir eine Gefahr vor allem von Rechtsaußen, und der haben wir uns zu stellen - jetzt. Sie ist die Herausforderung unserer demokratischen Gemeinschaft.

Ich hoffe, nein ich bin überzeugt, dass sich alle in diesem Hause in der Abwehr dieser Gefährdung unseres friedlichen Zusammenlebens, dieses Angriffs auf die Wertegrundlagen unserer Demokratie einig sind. Das heißt aber auch, zu begreifen, dass es nicht mehr um ein so genanntes Randphänomen geht, sondern dass die Gefährdung bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein reicht. Rechtsextremismus ist eben nicht mehr ein parteipolitisch isolierbares Phänomen.

Nein, jetzt müssen wir begreifen: Es hat sich etwas zum Schlimmen geändert. Ausländerfeindlichkeit ist eben bei nicht wenigen Menschen ein fast selbstverständlicher Teil des Alltagsbewusstseins geworden. Der Rechtsextremismus ist geradezu ein kulturelles Phänomen geworden. Er bedient sich unterschiedlicher kultureller Instrumente, um sich zu vermitteln. Er ist weniger parteipolitisch fassbar ... Ich war in den vergangenen anderthalb Jahren viel unterwegs, besonders in Orten rechtsextremistischer Gewalttaten, in so genannten rechten Hochburgen. Ich habe mir vorher nicht vorstellen können, was man da erleben kann, das Ausmaß von Angst, das sich bereits verbreitet hat. Es war mir unvorstellbar, dass junge Leute nicht mehr wagen, in bestimmte Teile einer Stadt zu gehen, einen Jugendclub zu besuchen ... Es gibt wirklich, was die Rechtsextremen groß tönend "nationale befreite Zonen" nennen. Wir können es anders nennen: Stadtquartiere und Gegenden, in denen die rechten Schläger und die rechten Ideologen dominieren ... Ich sage ausdrücklich: Es handelt sich hier nicht vor allem und nicht nur um ein ostdeutsches Problem - damit wir uns nicht missverstehen.

Was ist zu tun? Wir sind uns einig: Wir müssen die Gewalt energisch bekämpfen und mit außerordentlicher Geduld und viel Kraft die Ursachen der Gewalt bearbeiten. Wir reden über einen Antrag zum Verbot rechtsextremistischer Parteien, also der NPD. Polizei und Justiz haben selbstverständlich ihre Pflicht zu tun. Natürlich geht es darum, dass wir Arbeitslosigkeit verringern und verlässliche Perspektiven für junge Leute schaffen. Aber es geht eben auch ... um ein neues Begreifen des Rangs und Gewichts von Bildung und Aufklärung. Es muss uns erschrecken, dass nach so vielfältigen Anstrengungen unterschiedlicher Art in den vergangenen 40, 50 Jahren in Deutschland bei Umfragen unter jungen Leuten, was Auschwitz oder Holocaust bedeute, soviel Unwissenheit zum Ausdruck kommt ... Wir müssen an den Vorurteilen arbeiten, die von einer unerträglichen Zähigkeit sind.

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