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Polizisten untersuchen am 8.11.2011 in Zwickau die Überreste des Hauses der rechtsextremen Terrorzelle NSU. Ein Jahr später kritisieren Angehörige der Opfer Versäumnisse bei der Aufklärung.

© dpa

Rechtsextremismus: NSU-Morde - massive Kritik an schleppender Aufklärung

Knapp ein Jahr nach dem Bekanntwerden der NSU-Mordserie beklagen Angehörige der Opfer Versäumnisse von Politik und Justiz. Die Türkische Gemeinde warnt vor einem "riesigen Rassismusproblem" in Deutschland.

Kurz vor dem Jahrestag des Bekanntwerdens der Mordserie der Neonazi-Terrorzelle NSU am Sonntag fordern Angehörige von Opfern, dass Tätern und Mittätern endlich der Prozess gemacht wird. Gamze Kubasik, Tochter des am 4. Juni 2006 in Dortmund erschossenen Mehmet Kubasik, sagte dem Tagesspiegel: „Uns wurde sehr viel versprochen, auch von Bundeskanzlerin Merkel. Dann haben wir gehört, dass Akten vernichtet wurden, und wir haben das Gefühl, die Aufklärung kommt nicht voran. Ich fühle mich deshalb hintergangen und bin wütend und traurig zugleich.“

Kerim Simsek, Sohn des am 9. September 2000 erschossenen Enver Simsek, sagte dem Tagesspiegel: „Wir wollen, dass es jetzt endlich losgeht. Unser tiefer Wunsch nach voller Aufklärung wird erst durch einen Richterspruch Geltung erlangen.“

Opferanwalt Stephan Lucas, der die Familie Simsek vertritt, sagte dem Tagesspiegel: „Wenn die Ermittlungen und der Prozess abgeschlossen sind, dann sollte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel nochmals Stellung beziehen, um ihre Worte der Entschuldigung mit Inhalt zu füllen. Das erwarten die Angehörigen.“

Auch die Türkische Gemeinde in Deutschland zeigte sich verbittert über die schleppende Aufklärung. Deren Vorsitzender Kenan Kolat kritisierte es als „unglaublich, dass Vertuschungsversuche da sind und wir nicht wissen, was mit zerschredderten Akten passiert ist“. Die Politik wolle zudem nicht wahrhaben, dass es „ein riesiges Rassismusproblem“ gebe in Deutschland.

Kolat lobte zugleich die Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag. „Ich frage mich, was wäre denn, wenn wir keinen Untersuchungsausschuss hätten.“ Die Arbeit des Ausschusses werde allerdings konterkariert, indem Unterlagen nicht eingereicht, vorsortiert oder gar geschreddert würden. Im Zusammenhang mit der Aufklärung der Morde an Migranten führe die Bundesregierung „eine Pannendebatte“, kritisierte Kolat. Nötig sei aber eine Debatte darüber, „wie es dazu kommen konnte“. Der Rassismus sei in Deutschland wieder „in der Mitte der Gesellschaft angekommen“. Kolat erhob zudem schwere Vorwürfe gegen die Verfassungsschutzämter, denen im Zusammenhang mit den Ermittlungen Versäumnisse vorgeworfen werden: Der Verfassungsschutz gefährde in seiner jetzigen Form den demokratischen Rechtsstaat, weil er „offensichtlich ein Eigenleben“ führe. Kolat forderte personelle Veränderungen in den Ämtern auch auf unteren Ebenen, die damals in Verantwortung gestanden hätten. Mitarbeiter von Sicherheitsbehörden müssten künftig im Umgang mit Menschen anderer Herkunft geschult werden.

Die Existenz des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) war am 4. November 2011 aufgeflogen, als sich zwei der Mitglieder nach einem Banküberfall das Leben nahmen. Kurz darauf stellte sich die dritte Beteiligte der Polizei. Das Trio wird für bundesweit neun Morde an Migranten zwischen 2000 und 2006 verantwortlich gemacht sowie den Mord an einer Polizistin 2007 in Heilbronn. Zudem sollen sie zwei Bombenanschläge in Köln verübt haben. Warum die Behörden der Gruppe nicht früher auf die Spur kamen, sollen derzeit Untersuchungsausschüsse des Bundestags und in drei Länderparlamenten klären. (TSP/afp)

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