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Rechtshistoriker Stolleis: "Die Opfer brauchen Zeit"

Der Rechtshistoriker Michael Stolleis über die DDR, den Fall Demjanjuk und das Beschweigen von Unrecht.

Die Bundesrepublik steht vor ihrem wohl letzten großen Prozess zu NS-Verbrechen. Was bedeutet es für das Land und seine Geschichte, einen 89-Jährigen für Taten vor Gericht zu stellen, die mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen?


Von den klassischen Strafzielen kann hier nur Vergeltung oder Sühne gedacht werden. Auch wenn man dagegen theoretische Bedenken hat: Dieser Prozess sollte wegen seiner symbolischen Bedeutung geführt werden. Tausende von Toten säumen den Weg dieses Mannes. Solche Prozesse dienen dazu, dass man einmal, und sei es noch so spät, sagt: So etwas bleibt nicht ungesühnt. Es handelt sich also um eine symbolische Bestätigung von Grundnormen unserer Gesellschaft und unserer Ethik.

John Demjanjuk sei ein kleiner Fisch, sagen viele, er stand am untersten Ende der Befehlskette. Haben sie recht?

Er war ein Täter, auch wenn er als Gehilfe verurteilt werden sollte. Dieses Problem hat sich seit 1950 durch die NS-Prozesse gezogen: Man hatte sich durchweg an die unterste Ebene gehalten. Die mittlere Ebene der Schreibtischtäter zu fassen, bereitete große Probleme, strafrechtsdogmatische, aber auch politische. Dann hat der Bundesgerichtshof durch seinen engen Täterbegriff, der sowohl traditionell begründet als auch politisch motiviert war, dazu beigetragen, dass man Schreibtischtäter schwerer bestrafen konnte als jene, welche die Tat handgreiflich ausgeführt haben.

Hätte man das nicht auch anders handhaben können?

Es ist ein Grundsatzproblem des Strafrechts. Zugeschnitten auf den individuellen Schuldvorwurf, ist es kaum geeignet bei Makrokriminalität, die durch ganze Netzwerke von Tätern entsteht, die einzelne Tat-Schuld zu isolieren. Der Lokomotivführer, der die Wagen nach Auschwitz fährt, ist in diesem Sinne auch Täter. Der Beamte, der in der Heimat seinen Dienst tut, entlastet indirekt die Täter an der Front. Daraus wird niemand einen strafrechtlichen Vorwurf machen. Aber funktional gibt es Austauschverhältnisse zwischen Normalität und Terror. Man hätte es also anders handhaben können, aber mit einem anderen Strafrecht.

Demjanjuk könnte sagen, er sei gezwungen worden und hatte keine Wahl, weil er Kriegsgefangener war. Kann er sich damit entlasten?

Alle Täter haben behauptet, dass sie auf Befehl gehandelt haben. Von der Rechtsprechung wurde das in fataler Weise so berücksichtigt: Wer die Tat nicht „als eigene“ wollte, sollte nur als Gehilfe bestraft werden. Diese Leute fielen dann unter Amnestien und konnten der Strafjustiz entkommen. Über die alte Unterscheidung zwischen Tätern und Gehilfen wurden Unzählige zu Gehilfen gemacht. Alle, die tatsächlich identifiziert wurden, sagten, sie hätten sich in einer ausweglosen Situation befunden. Da ist Demjanjuk kein Sonderfall. Und, nebenbei, es sollte uns auch nicht entlasten, dass er kein Deutscher ist.

Wurde die Rolle ausländischer Helfershelfer beim NS-Judenmord bisher ausreichend aufgearbeitet?

Die deutsche Historiografie hat das bisher nicht so intensiv beleuchtet, weil sie zunächst (und mit Recht) die deutschen Taten im Blick hatte. In den betroffenen Ländern gibt es eine historiografische Kultur dieser Art nur selten. In Litauen beispielsweise wurde verschwiegen, dass eigene Leute beteiligt waren. Inzwischen ist die sowjetische Lebenslüge zerbrochen, wonach die eigenen Bürger immer Antifaschisten waren und keine Verbrechen begangen hatten. In den Ländern Osteuropas kommen erst allmählich Aufarbeitungsprozesse in Gang. Ihre eigenen Unglücksgeschichten sind noch nicht wirklich aufgearbeitet. Da gibt es noch viel zu tun.

Warum beginnt die Aufarbeitung in diesen Ländern so langsam?

Es verletzt den nationalen Stolz der gerade vom sowjetischen Joch befreiten Länder, jetzt auch noch ihre eigene Belastungsgeschichte zu erforschen. Sie neigen erst einmal dazu, die nationale Identität ohne Tadel wiederherzustellen. Das ist verständlich. Und wenn man bedenkt, wie schleppend auch bei uns die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Gang gekommen ist, muss man wohl allen – den Tätern und den Opfern – eine gewisse Karenzzeit zubilligen.

Die Bundesrepublik, heißt es oft, habe bei der Aufarbeitung von NS-Unrecht versagt. Stimmt das?

Die größten Versäumnisse muss man sowohl beim Gesetzgeber als auch in der Rechtsprechung suchen. Es wurden zwei große Amnestien erlassen und Gesetze auf den Weg gebracht, die der Bereinigung der unklaren Nachkriegssituation, aber auch der Entlastung von NS-Tätern dienten. Der Gesetzgeber hat in den 60er Jahren mehrmals eine Debatte über die Verjährung der Taten geführt, es wurden immer neue Fristen gesetzt. Die Aufarbeitung kam nicht nach, bis man sich endlich entschlossen hat, die Verjährung für Mord ganz aufzuheben. Dabei wurde der Gesetzgeber nicht von sich aus aktiv, sondern ist von der Öffentlichkeit und vom Ausland dazu gedrängt worden. Das ist das Hauptversäumnis. Außerdem haben der Bundesgerichtshof und einige andere Gerichte sehr eifrig daran gearbeitet, die Fälle loszuwerden und über die Gehilfenrechtsprechung und die Argumentation mit dem Befehlsnotstand zu erledigen. So sind Tausende von Tätern davongekommen. In der Zeit des Wirtschaftswunders ging die Zahl der Prozesse stark zurück. Erst als 1958 die staatsanwaltschaftliche Zentralstelle für NS-Verbrechen in Ludwigsburg errichtet wurde, stiegen die Zahlen wieder erheblich an.

Wie kam es zu der Pause, wo die Alliierten mit den Nürnberger Prozessen doch ein Vorbild dafür geliefert haben, wie man Kriegsverbrechen bestrafen kann?

Nürnberg war für die deutsche Öffentlichkeit, die sich gerade wieder aus den Trümmern herausarbeitete, kein Vorbild. Eigentlich war man froh, dass die Alliierten diese Fälle erledigt hatten. Das war für die Deutschen eine Zeit lang auch eine Entschuldigung, sich diesem Thema nicht weiter zu nähern. Die Stimmung war: Nun ist es gut.

Wie kam es zu der Nachsicht in der Justiz, gerade gegenüber den Schreibtischtätern?

Abgesehen von den juristischen Schwierigkeiten: Richter sind ja auch nur Angehörige ihrer Schicht, und die Schreibtischtäter waren ihnen ähnlich. Das waren zum größten Teil auch studierte Juristen, Verwaltungsfachleute, honorige Personen, die in der Bundesrepublik wieder ohne Weiteres integriert wurden.

Gab es auch gelungene Seiten der Aufarbeitung?

In den 60er Jahren wandelte sich die Stimmung. Der Auschwitz-Prozess erreichte eine große Öffentlichkeit, es begann eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, auch in der Geschichtsschreibung. Die bundesdeutsche Gesellschaft insgesamt ist nach einer zehnjährigen Schweigepause aufgewacht und hat sich dem Problem gestellt. Sie hat langsam begriffen, dass hier ein Menschheitsverbrechen, ein Zivilisationsbruch geschehen war, dem man schlechterdings nicht ausweichen konnte. Andere Länder haben sich nach dem Zusammenbruch ihrer Diktaturen anders verhalten. Deutschland hat aufgrund seiner langen Rechtsstaatstradition den Weg der justiziellen Aufarbeitung gewählt. Es gab die genannten Versäumnisse, aber insgesamt sind wir diesen Weg länger und intensiver gegangen als andere Länder. Trotzdem müssen wir damit leben, dass Gerechtigkeit nicht erzielt werden kann. Heute geht es noch um eine symbolische Bestrafung von uralten Tätern. Von einer Bewältigung des Unrechts kann keine Rede sein, weil es prinzipiell nicht bewältigt werden kann.

Welche Lehren kann man aus der deutschen Erfahrung mit der Aufarbeitung der Vergangenheit ziehen?

Jedes Volk, jede Rechtskultur würde das anders machen. Es gibt solche, die mehr auf Vergeben und auch auf Vergessen bedacht sind, andere, die mehr auf Familienstrukturen beruhen. Wir haben getan, was auf unserer relativ etatistischen Linie lag. Es gibt auch nicht überall eine unabhängige Justiz, die das machen könnte. Möglicherweise wäre es falsch, die Ahndung staatlichen Unrechts an die Justiz zu geben. Wer wäre etwa heute in Russland in der Lage, alles, was in der sowjetischen Zeit seit Lenins Tod an Unrecht geschah, aufzuarbeiten?

Die Deutschen haben wenige Jahrzehnte später erneut die Aufgabe gestellt bekommen, staatliches Unrecht aufzuarbeiten, diesmal das der DDR. Welche Vergleiche kann man ziehen?

Es gibt wohl eine Ähnlichkeit zwischen der frühen Bundesrepublik und der Zeit unmittelbar nach der Wende in der DDR, eine Zeit des selbstverordneten Schweigens von Opfern und Tätern. Bei den Tätern ist das selbstverständlich, doch auch bei Opfern braucht es einige Zeit, das Geschehen aufzuarbeiten. Von Holocaust- Überlebenden ist bekannt, dass in den Familien wenig gesprochen wurde, es mag in der DDR auch so sein. Vielleicht kommt dann auch 20 Jahre später die Enkelgeneration und fragt mit der Unschuld der Kindheit: Opa, warst du auch bei der Stasi? Und vielleicht kommt dann lange Verborgenes ans Licht. In der Ex-DDR steht vermutlich noch eine intensive Debatte über jene bevor, die bis 1989 regierten. Das fängt jetzt erst an, und es braucht Zeit. Die spektakulären Prozesse gegen die Mauerschützen, gegen Honecker und Mielke haben wir hinter uns. Vom Ablauf her ähnelt das der Zeit nach 1945, auch wenn damals natürlich ganz andere Vorwürfe im Raum standen. Hier tut sich das Trennende auf; das DDR-Unrecht war erheblich, aber mit dem des Nationalsozialismus nicht zu vergleichen.

War die DDR dennoch ein Unrechtsstaat?

Das Wort Unrechtsstaat benutze ich nicht gerne, es hat eine politisch-polemische Konnotation, und die wird von den früheren DDR-Bürgern auch so empfunden. Und dann kommt eben immer das Gegenargument: Es gab auch Gutes. Und das erinnert teuflisch an die Argumente zur Nazizeit, Hitler habe die Arbeitslosigkeit beseitigt und die Autobahnen gebaut. Es kann also auf die Frage nicht mit Ja oder Nein geantwortet werden. Der Beginn der DDR war gekennzeichnet von einer stalinistischen Unterdrückungsperiode mit fürchterlichem Unrecht, von der Bodenreform bis zu den Waldheimer Prozessen. Hilde Benjamin und die Stasi sind unvergessen, ebenso das Herausnehmen von Kindern aus vorgeblich nichtsozialistischen Familien, weiter die Strafvollzugs- und Verhörpraxis mit Folter. Vieles ist noch gar nicht aufgeklärt, beispielsweise die Schädigung durch Röntgenstrahlen, über die es nur Gerüchte gibt. Niemand kann deshalb behaupten, die DDR sei ein Rechtsstaat gewesen. Aber auch ein Unrechtsstaat war sie nicht in einem totalen Sinne, weil viele Dinge nach Regeln abliefen, weil man sich in engem Rahmen bewegen konnte, weil es Reservate und Nischen gab, wo man sich sammeln und verständigen konnte.

Heute sagen deutsche Gerichte oft, Stasi-Spitzel dürften nicht öffentlich mit ihrem Klarnamen genannt werden. Welche Rolle spielt das für die Aufarbeitung?

Für die Geschichtsschreibung ist es keine Frage: Geschichte braucht Namen. Bei den Stasi-IM muss man aber etwas genauer hinschauen. War es ein 18-Jähriger, der mal einen Bericht über eine Klassenfahrt abgeliefert hat und ohne viel Zutun in den Mechanismus hineingeraten ist? Oder war es ein halbprofessioneller Verrätertyp, der mit verdeckten Mitteln arbeitete und Menschen schadete? Da würde ich große Unterschiede machen. Es gab tausende von Fällen, in denen Leute bloß harmlose Berichte schrieben. Will man die jetzt alle ans Licht zerren? Es gibt da keine feste Regel, es ist eher ein moralisches Empfinden, hier feiner zu differenzieren. Dennoch ist klar: Eine Gesellschaft kann nicht seelisch intakt sein und moralisch aufrecht gehen, wenn sie es zulässt, dass echte Täter ungenannt bleiben.

Stasi-Forscher und Unterlagenbehörde werfen den Gerichten vor: Ihr verhindert Aufklärung. Trifft das Verdikt zu?

Ja, das meine ich schon. Man misst in vielen Fällen Persönlichkeitsrecht und Datenschutz zu großes Gewicht bei. Ich sage das gerade wegen meiner Erfahrungen mit der NS-Forschung.

Das Gespräch führten Claudia von Salzen und Jost Müller-Neuhof.

ZUR PERSON

DER HISTORIKER:
Michael Stolleis, Jahrgang 1941, ist Direktor am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main. Er forschte lange zur NS-Geschichte.

DER JURIST
: Stolleis hat Jura studiert und ist einer der wenigen Wissenschaftler, die gerade die Geschichte des öffentlichen Rechts interessiert. Derzeit schreibt er ein Buch über Verwaltungsrecht in der DDR. Titel: „Sozialistische Gesetzlichkeit“.

DER SAMMLER: Im Keller beherbergt das Institut die größte Sammlung von Jura-Dissertationen der frühen Neuzeit – echte Schwarten, gebunden in Schweinsleder.

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