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Mitten auf dem Trafalgar Square in London protestieren Engländer gegen den Brexit.

© dpa

Rechtspopulismus und EU: Der Brexit ist auch gut für Europa!

Für Großbritannien ist der Brexit eine Katastrophe. Gerade deshalb könnte er die Attraktivität antieuropäischer Ideologien schmälern. Vielleicht kommt er sogar zur rechten Zeit. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Manche Ideologien müssen sich erst durchsetzen, bevor sie widerlegt werden können. Ohne den real existierenden Sozialismus – ohne Gulag, Maos Kulturrevolution und DDR – würden womöglich immer noch Millionen Menschen für den Traum von einer klassenlosen Gesellschaft auf die Barrikaden gehen. Doch das tun sie nicht, weil sie die Enttäuschung von einer Täuschung befreit hat. So etwas tut gemeinhin weh. Sich mit einer Welt arrangieren zu müssen, in der es Privateigentum, entfremdete Arbeit und Ausbeutung gibt, fällt schwer. Zu erkennen, dass die Alternativen dazu noch ärger sind, ist trostlos. Aber es ist allemal besser, als erneut und mit Macht und Gewalt das Glück auf Erden erzwingen zu wollen.

Die Europäische Union wurde in den vergangenen Jahren zunehmend als ein Gebilde wahrgenommen, das zu krank wurde, um noch geheilt werden zu können. Bürokratisch, technokratisch, anmaßend, bevormundend, klandestin. Repräsentiert von einem nichtssagenden, aber desto redseligeren Duo, Jean-Claude Juncker und Martin Schulz. Die Eurokrise ist längst nicht ausgestanden, die Maastrichter Verschuldungskriterien werden fortwährend verletzt, die Flüchtlingskrise wiederbelebte den Nationalismus.

Als Folge dessen erstarkte die Gegnerschaft zu diesem Europa. Bei den letzten Wahlen zum EU-Parlament gingen rund zwanzig Prozent der Sitze an EU-Kritiker. Ob in Frankreich, Großbritannien, Dänemark, den Niederlanden, Österreich, Ungarn oder Polen: Bisweilen aus dem Stand heraus triumphierten rechtspopulistische Parteien mit dem Versprechen, die Ketten des europäischen Völkergefängnisses zu sprengen und die Menschen daraus zu befreien. Am Horizont dieser Rhetorik tauchte die Vision eines gesunden, prosperierenden Nationalismus als Alternative zur EU auf.

Von Marine Le Pen über Geert Wilders bis zu Nigel Farage und den deutschen Vertretern der AfD: In dieser Vision fanden sie – bei allen Unterschieden – zusammen. Manchmal schienen sich Europas Rechtspopulisten in ihrem Groll auf Europa näher zu stehen als Europas regierende Politiker in dem Bemühen, die EU transparent und funktional zu gestalten.

Nun kommt die Probe aufs Exempel. Seit dem Ergebnis des britischen Referendums ist der Ausstieg eines Landes aus Europa keine Vision mehr, sondern der erklärte Wille einer Mehrheit der Wähler in Großbritannien. Doch bereits nach wenigen Tagen schwant so manchem, dass es sich mit einem gesunden, prosperierenden Nationalismus jenseits der EU ebenso verhalten könnte wie mit der Idee einer klassenlosen Gesellschaft: klingt zu schön, um wahr werden zu können.

Der britische Finanzminister kündigt Steuererhöhungen an

Das britische Pfund stürzt ab, die Ratingagenturen stufen das Land herunter, es rutscht auf Platz sechs – hinter Frankreich! – der stärksten Volkswirtschaften der Welt ab, die Wachstumsprognosen werden nach unten korrigiert, der britische Finanzminister kündigt Steuererhöhungen und massive Sozial-Kürzungen an, Schottland plant seinen eigenen Brexit (raus aus Großbritannien), die politische Elite, einschließlich der Labour-Partei, zerlegt sich.

Währenddessen liebäugelt der ideologische Kopf des Brexit-Lagers, Boris Johnson, damit, den Zugang Großbritanniens zum EU-Binnenmarkt erhalten zu können, ohne die Freizügigkeit gewähren zu müssen. Doch das ist naiv. Es wäre ebenso widersprüchlich wie eine klassenlose Gesellschaft zu schaffen, in der die Produktionsmittel in privater Hand sein dürfen. Entweder, oder.

Bis zum Brexit konnten Europas Rechtspopulisten sich selbst und andere täuschen. Sie konnten den Wahn kultivieren, durch das Zerteilen eines großen engmaschigen Netzes in viele kleine Netze ließen sich mehr Fische fangen. Doch diese Rechnung geht nicht auf. Frei und arm oder gebunden und wohlhabend: Das ist die Entscheidung, vor der jeder Europäer steht. Der Verzicht auf Souveränität vergrößert die ökonomischen Optionen und verringert die Zahl der Handelshemmnisse. Frei und reich? Das gibt’s nur in europhoben Phantasien.

Der Brexit ist schlecht für Europa und sehr schlecht für Großbritannien. Gerade deshalb könnte er die Attraktivität antieuropäischer Ideologien schmälern. Vielleicht kommt er sogar zur rechten Zeit, um einen Teil der selbstzerstörerischen Impulse Europas als Irrweg zu entlarven.

Auf dem Trafalgar Square haben vor wenigen Tagen Tausende Engländer aus Protest gegen den Brexit Europafahnen geschwenkt. Wann je hatte man solche Bilder zuvor in London gesehen?

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