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Politik: Reden nach dem Schweigen

Jahrelang hat Chile versucht, Pinochet und sein Terror-Regime zu vergessen. Doch jetzt wird die dunkle Vergangenheit aufgearbeitet – öffentlich

DER PUTSCH IN CHILE – 30 JAHRE DANACH

Am 16. Oktober 1998 reibt sich Juan Rojas Castro verwundert die Augen. In der Nachrichtensendung hatten sie gerade eine Sensation verkündet: Augusto Pinochet, verantwortlich für eine der blutigsten Diktaturen, wird in London aufgrund eines internationalen Haftbefehls des spanischen Untersuchungsrichters Baltasar Garzón unter Arrest gestellt. Juan Rojas Castro bleibt der Mund offen stehen. Dann denkt er an seinen Bruder und schöpft Hoffnung, dass die Wahrheit über das Ausmaß des Leids seiner und anderer Familien ans Licht kommen und sein Bruder rehabilitiert werde.

Am 20.Dezember 1973 klopfte es gegen 16 Uhr 30 an der Tür des Hauses im Bezirk San Miguel in Santiago de Chile. Juan öffnet. „Ist Pedro da?“, wollten die Männer wissen. Dann nahmen sie Pedro Rojas, Juans Bruder, mit. Juan sah ihn nicht mehr lebend wieder. Pedro, 21 Jahre, wurde ermordet, weil er angeblich die kommunistische Gegenrevolution plante.

Das war kurz nach dem 11. September 1973, wenige Tage nach dem Sturz des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende und der Machtübernahme Pinochets mit Hilfe des US-Geheimdienstes. Juan wird seinen Bruder später im Leichenhaus identifizieren müssen. Da sagt man ihm, sein Bruder sei bei einem Schusswechsel ums Leben gekommen. An Pedro aber sind keine Einschusswunden zu sehen. Den geschwollenen Händen fehlen dagegen die Fingernägel. Er hat Striemen und Einschnitte rund um die Handgelenke und starke Verbrennungen, der rechte Arm ist gebrochen, seine Schädeldecke zusammengequetscht. Die Familie Rojas flüchtet aus Chile. Juan lebt heute in Berlin.

Mit der Verhaftung Pinochets beginnt eine neue Ära für Chile. Rojas nennt das sein „Erwachen aus der politischen Lethargie“. Das gilt auch für sein Land. Bis zu diesem Zeitpunkt hat man die Diktatur verdrängt, hat versucht zu vergessen. Die Täter blieben unbestraft, die Opfer ungesühnt. Und dann das: Pinochet wird viele Monate lang im trüben London festgehalten, Menschenrechtsgruppen feiern diese Premiere, denn noch nie wurde ein solch hochrangiger Verantwortlicher für Vergewaltigung, Mord, Folter und Entführung juristisch derart in die Enge getrieben. Völkerrechtsexperten zermartern sich die Köpfe, ob es legitim sei, Pinochet außerhalb Chiles anzuklagen. Mehr als zehn weitere westeuropäische Staaten stellen Strafanzeige gegen den Ex-Diktator, das Völkerrecht bekommt eine ungeahnte Aufwertung. In Chile selbst spaltet der Diktator in Abwesenheit weiter die Gesellschaft.

Juan Rojas Castro reist im Januar 1999 nach London, um persönlich eine Zeugenaussage zu überbringen. Er weiß: Sie wird nichts ausrichten, aber er hofft: Chile wird der Gerechtigkeit endlich Raum geben. Heute sagt Rojas, es sei ihm dabei nie um Rache gegangen, sondern um die Anerkennung des Unrechts. Dass Pinochet letztlich nach Chile ausreisen darf, straffrei bleibt und nicht vor Gericht muss, ist für viele Menschenrechtsvertreter nicht mehr entscheidend. Wichtiger war, dass die Chilenen zu reden begannen.

Jetzt, am 30. Jahrestag des Putsches, diskutiert Chile unermüdlich, streitet besonnen, klärt auf. Selbst das rechte Zeitungsmonopol und die noch immer überwiegend reaktionäre Unternehmerschaft beteiligen sich. Kein Tag vergeht ohne neue Anschuldigungen, aber auch nicht ohne Geständnis hoher Militärs, die jahrzehntelang ihre Wagenburg nicht verlassen wollten.

Seit vielen Jahren wird das Land nun schon regiert von einer großen Koalition, die auf dem schmalen Grad zwischen Aufarbeiten und Verdrängen die Gesellschaft eher zusammengeführt hat. Die jüngste chilenische Geschichte ist eine Erfolgsgeschichte: Noch immer wächst die Wirtschaft, die Armut wurde in den letzten zehn Jahren halbiert, die Exportwerte sind gut, die Mittelschicht ist nicht wie in Argentinien von der Last der Lebenshaltungskosten zerstört worden.

Der Lateinamerika-Experte und derzeitige Direktor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kolumbien, Wolf Grabendorff, hält Chiles Modernisierungsweg in Zeiten der Globalisierung für eine „herausragende Leistung“, auch wenn die soziale Ungleichheit in Chile noch immer immens sei. Die Diktatur, findet Grabendorff, sei „institutionell überwunden“, auch wenn sie „noch immer großen symbolischen Streitwert besitzt“. Aber wo sonst in Lateinamerika gibt es eine relative Steuergerechtigkeit, wo wurde in Bildung investiert, wo hat der Staat erfolgreich sein Sozialsystem reformiert und private Altersvorsorge geschaffen?

Wer heute durch Santiago spaziert, sieht keine blühenden Landschaften, dafür hängt der Smog-Deckel zu dicht über der Stadt. Aber es wird gebaut, an allen Ecken und Straßenenden. Autobahnen, Häuser, Büros. „Man hat das Gefühl, in einem dynamischen Land zu sein, mit sehr politisch engagierten Menschen“, sagt Grabendorff.

Die Concertacíon, das Parteienbündnis aus Rechten, Sozialisten und Christdemokraten unter Präsident Lagos, wird wohl dennoch keine weitere Wahl gewinnen. Die Leute sind müde von der großen Koalition, müde von den Kompromissen zwischen Rechts und Links. Schuld daran ist auch die autoritäre Verfassung, die unter Pinochet verändert wurde. Einige Senatoren können nicht abgewählt werden und bleiben auf Lebenszeit in ihrem Amt. Alle drei Regierungen nach Ende der Diktatur haben daran nichts geändert – aus Angst, das gesellschaftliche Gleichgewicht zu verletzen. Ohnehin setzte die Concertacíon auf die Angst der Bürger vor einer neuen Diktatur – und wurde gewählt.

Grabendorff glaubt, dass diese Angst unbegründet ist. Deshalb wird Chile in Zukunft härtere politische Auseinandersetzungen erleben. Die Gewerkschaften werden ihre Zurückhaltung ablegen, die Demonstrationen wegen der sozialen Belastungen werden zunehmen, und man wird weiter darüber streiten, ob Salvador Allende oder Augusto Pinochet an allem Schuld sei. Nur den demokratischen Weg wird Chile nicht mehr verlassen.

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