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In manch einer Debatte im Bundestag geht es wortreich zur Sache. Auch Abweichler einzelner Fraktionen dürfen ihre Meinung meist äußern – das soll so bleiben.

© Reuters

Rederecht im Bundestag: Lösung durch Nichtlösung

Die Empörung ist groß gewesen, nun reagieren die großen Fraktionen und verzichten vorerst auf die stärkere Kontrolle bei Wortmeldungen von Abgeordneten. Der Streit könnte nun still und leise beigelegt werden.

Von Antje Sirleschtov

Das Wörtchen „Benehmen“ löst bekanntlich vielerlei Konflikte aus. Etwa wenn es um gute Tischsitten geht oder die Frage, ob und wann ein Mann in Gegenwart von Damen die Kopfbedeckung zu lüpfen hat. Jetzt hat es das Wörtchen auch bis in die Spitzen der Politik geschafft. Und siehe da: Auch dort sorgt es für Krach. Von der „Beschneidung des Rechts eines gewählten Abgeordneten“ ist die Rede, vom „Maulkorberlass“, und die ersten Parlamentarier, einer von der CDU, der andere von der Linkspartei, drohen nun damit, das Bundesverfassungsgericht anzurufen.

Im Kern des Streits geht es um das Rederecht des Bundestagsabgeordneten und die Frage, wer in einer Plenardebatte wie lange sprechen und vor allem, wer das Rederecht erteilen darf. Bis zum 29. September letzten Jahres hat diese Frage niemanden wirklich beschäftigt. Praktisch hatte sich der Bundestag verständigt, dass die gesamte für eine Sachfrage vorgesehene Redezeit im Plenum proportional unter den Fraktionen aufgeteilt wird und es dort den Parlamentarischen Geschäftsführern obliegt, die Zeiten auf die Mitglieder der Fraktion aufzuteilen. Das führte regelmäßig dazu, dass in wichtigen Plenardebatten Fraktionsvorsitzende und Fachpolitiker ans Rednerpult traten. Hinterbänkler oder fraktionsinterne Kritiker hingegen hatten kaum Chancen auf Wortmeldung. Es sei denn, sie meldeten sich während der Debatte zu maximal dreiminütigen „Kurzinterventionen“; ein Mittel, mit dem es der Grünen-Abgeordnete Christian Ströbele zu parlamentarischer Berühmtheit gebracht hat. Oder aber sie gaben schriftliche Erklärungen ab, wovon die Öffentlichkeit allerdings kaum Notiz nahm. Diese lang geübte Praxis des Parlamentarismus mag nicht immer gerecht erscheinen. Sie ist allerdings in allen Fraktionen bis heute unumstritten. Das Selbstorganisationsprinzip des Bundestages gewährleistet Fairness zwischen den Fraktionen und scheint praktikabel, wenn es um die Organisation des Parlaments geht.

Am 29. September jedoch hat Norbert Lammert (CDU) erstmals von einem Recht Gebrauch gemacht, das dem Bundestagspräsidenten zwar formal zusteht, das in der Geschäftsordnung jedoch nicht geregelt ist. Lammert hatte in der Debatte um den Eurokurs der Bundesregierung den Abgeordneten Klaus-Peter Willsch (CDU) und Frank Schaeffler (FDP) je fünf Minuten Redezeit zusätzlich zum Zeitkontingent ihrer Fraktionen eingeräumt, damit sie ihre vorher bekannten Meinungen, die sich von der ihrer Fraktionen unterschieden, vortragen konnten. Lammert wurde daraufhin von den Parlamentarischen Geschäftsführern aller Fraktionen einmütig gerügt. Man warf ihm vor, sein hohes Amt nach „Gutsherrenart“ auszunutzen. Wo käme man hin, wenn jeder, der sich im Plenum wichtigmachen will, künftig nur noch zum Präsidenten laufen muss? Und weiter: Welche Machtfülle kommt dem Bundestagspräsidenten zu, wenn er künftig ohne Rücksprache mit den Fraktionen festlegen darf, wer im Parlament seine Meinung öffentlich kundtun darf und wer nicht?

Kurzum: Ende März haben sich die Fraktionsführungen auf zwei neue Paragrafen in der Geschäftsordnung geeinigt. Zum Ersten sollen „Abweichler“ wie Willsch und Schäffler ihre Positionen „im Regelfall“ künftig kurz und knapp schriftlich einreichen. Zum Zweiten soll ihnen der Präsident „ausnahmsweise“ eine dreiminütige Redezeit außerhalb des Fraktionskontingentes einräumen dürfen. Allerdings muss er sich darüber mit den Fraktionsführungen „ins Benehmen setzen“, was einige Abgeordnete als Pflicht betrachten, die Erlaubnis der Fraktionsführungen einzuholen und unmittelbar als „Beschneidung der Redefreiheit “ ablehnten. Es folgte heftige Kritik, am Montag lenkten die Parlamentarischen Geschäftsführer von Union, FDP und SPD ein. Die eigentlich im Konsens verabschiedeten Änderungen der Geschäftsordnung wurden zurückgezogen. Peter Altmaier (CDU) und Jörg van Essen (FDP) kündigten an, die Vorschläge ausführlich diskutieren zu wollen. Thomas Oppermann (SPD) erklärte, die bislang vorliegenden Vorschläge seien „nicht ausgereift und werden so nicht kommen“. Alternativen wurden indes nicht vorgeschlagen und hinter vorgehaltener Hand hieß es in der Union, eine solche „Nichtlösung“ sei auch genau das, was Norbert Lammert am liebsten sähe. Denn ohne konsensuale Änderung der Geschäftsordnung könne Lammert auch fortan Rederecht verteilen, wann und wie es ihm beliebt.

Just am Beginn dieser Woche hat der ehemalige Bundespräsident und Verfassungsrechtler Roman Herzog zur Frage des Rederechts ein kleines Büchlein herausgebracht („Oder gilt das nur in der Demokratie?“, bup-Verlag). Und auch Herzog weiß keine Lösung. Auf eines jedoch weist er hin: Wenn in Zukunft zwanzig oder dreißig „Abweichler“, wie Willsch und Schaeffler, reden dürften, dann drohe dem Bundestag nach Weimarer Vorbild wieder der Ruf einer „Quasselbude“.

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