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Merkel und Hollande umarmen sich

© dpa

Reformstau in Frankreich: Hollandes Agenda

In der Regierung des französischen Präsidenten gilt Deutschland zwar als wirtschaftliches Leitbild. Aber François Hollande scheut davor zurück, Gerhard Schröders Agenda-Reformen als Blaupause zu übernehmen - aus Rücksicht auf die eigene Klientel.

Im Rücken von Rémy Rioux spiegelt sich die Sonne in der Seine, nicht weit entfernt stehen die imposanten Türme der Très Grande Bibliothèque, eines der größten Bauprojekte des früheren französischen Präsidenten François Mitterrand. Rioux ist Büroleiter des französischen Finanzministers Pierre Moscovici, der eine Schlüsselfunktion in der Regierung hat – der Amtsinhaber im Pariser Viertel Bercy muss im Verlauf des kommenden Jahres liefern: Wachstum, den versprochenen Rückgang bei der Arbeitslosigkeit, Schuldenabbau.

Wer sich mit Rémy Rioux unterhält, landet irgendwann unweigerlich bei Deutschland, jenem Partner, der heute in Europa längst nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch den Ton angibt. Frankreichs Politiker – und nicht nur bei den regierenden Sozialisten – sind entnervt von den ständigen Ermahnungen von Leuten wie dem FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle, die bei jeder Gelegenheit eine Erhöhung des Reformtempos in Frankreich verlangen. Deshalb ist es auch nicht ganz überraschend, dass Rioux sagt: „Solche Dinge wie Minijobs wollen wir nicht nachahmen.“

Deutschland gilt im französischen Finanzministerium zwar in vielerlei Hinsicht als „Leitbild“, wie es Moscovicis Büroleiter formuliert: der leistungsfähige Mittelstand, die Exportstärke, das vergleichsweise reibungslose Miteinander von Arbeitgebern und Gewerkschaften. Und dennoch lautet die Botschaft der französischen Regierung, dass die Reformen „à la française“ und nicht getreu der deutschen Blaupause umgesetzt werden sollen. Ein Teil der Bevölkerung in Deutschland, sagt etwa Jacques Maire, einer der Wirtschaftsberater von Außenminister Laurent Fabius, erhalte Löhne „wie in den Schwellenländern“. Stundenlöhne von zehn Euro „wären in Frankreich nicht akzeptabel“, sagt er.

Seit Frankreichs Staatschef François Hollande bei der 150-Jahr-Feier der SPD in Leipzig Lobeshymnen auf Ex-Kanzler Gerhard Schröder gesungen hat, fragen sich die Franzosen: Könnte Hollande seinen moderaten Reformkurs zugunsten eines drastischen Programms wie der „Agenda 2010“ aufgeben? Für einen ähnlichen Schwenk gibt es in der Geschichte durchaus ein Beispiel: Staatschef Mitterrand trat 1981 zunächst mit einem dezidiert linken Programm an, bevor er zwei Jahre später das Ruder herumriss und die Sozialleistungen einschränkte.

Vielleicht ist es der Pomp vergangener Tage, der den Franzosen den Blick auf die Realität verstellt.

In der Ära Mitterrand gab es allerdings noch keine mächtige Wirtschaftskonkurrenz aus China, und die Globalisierung war noch weit vom heutigen Stand entfernt. Deshalb glauben Männer wie Daniel Bernard auch nicht daran, dass sich Hollande mit einer Verschärfung des Reformtempos so viel Zeit lassen kann wie damals Mitterrand. „Wir haben es mit einem Notfall zu tun“, sagt der Aufsichtsrat des internationalen Einzelhandelskonzerns Kingfisher. Bernard kennt Deutschland sehr gut, und umso mehr sticht ihm die Reformunwilligkeit seiner Landsleute ins Auge. „Die Franzosen lieben die Revolution, aber sie wollen ihre Gewohnheiten nicht ändern“, seufzt er.

Vielleicht ist es der Pomp vergangener Tage, der Glanz in Palästen wie dem Palais Royal in der Nähe des Louvre, der den Franzosen den Blick auf die Realität verstellt. Jacques Barrot hat hier seinen Arbeitsplatz als Mitglied des Verfassungsrates. Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass er sich von dem Gepränge nicht beeindrucken lässt. Barrot weiß aus eigener leidvoller Erfahrung, wie schwierig es ist, Veränderungen in seinem Land durchzusetzen. 1995 wurde er Sozialminister, und in jenem Jahr musste die Regierung von Präsident Jacques Chirac wegen Massenstreiks den Rückzug bei der geplanten Rentenreform antreten. Trotzdem hat der 76-Jährige die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sich unter Hollande alles noch irgendwie zum Guten wenden könnte: „Wenn wir kurz vor dem Abgrund sind, stehen wir wieder auf.“

Steht Frankreich am Abgrund?

Wenn einer die Malaise der einstigen „Grande Nation“ plastisch darstellen kann, dann ist das Jean-Claude Trichet. Der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank tippt bei einem Treffen in der Nähe des Kunstmuseums Musée d’Orsay auf eine Grafik, auf der zwei Kurven zu sehen sind. Der Anfangspunkt der Kurven liegt im Jahr 2002. „Damals verkauften sich Autos von Renault in Deutschland noch wie warme Semmeln“, sagt Trichet. Die beiden Kurven, aus denen sich die Entwicklung der Lohnstückkosten in Deutschland und Frankreich ablesen lässt, zeigt aber, dass die Löhne in Frankreich im vergangenen Jahrzehnt sehr viel schneller wuchsen als in Deutschland – einer der wesentlichen Gründe für Frankreichs Exportschwäche. „Wir müssen unsere Produktionskosten stabilisieren“, fordert Trichet.

Aber davon, alle Tarifpartner an einen Tisch zu bekommen, um eine Einigung über eine flächendeckende Lohnzurückhaltung zu erlangen, kann man in Paris derzeit nur träumen. Hollandes Regierung hat damit zu kämpfen, dass ihre eigene Klientel verstaubte Vorstellungen hat, wie sie bei den Sozialisten sonst nur in wenigen anderen EU-Ländern anzutreffen sind. Eine flexiblere Gestaltung der Arbeitswelt liegt nicht gerade im Erbgut der französischen Linken. Und so muss sich Hollande damit begnügen, sich von Reförmchen zu Reförmchen zu hangeln. Noch im Juni soll die Vereinbarung zwischen Arbeitgebern und einem Teil der Gewerkschaften endgültig verkündet werden, die den Unternehmen mehr Flexibilität und den Beschäftigten größere Arbeitsplatzsicherheit gewähren soll. Im Herbst steht dann als Nächstes die Reform des Rentensystems auf dem Programm.

Aber am Ende könnten all diese Maßnahmen Makulatur bleiben, wenn der ersehnte Wachstumsschub ausbleiben sollte. In diesem Fall müsste sich Hollande dann doch die entscheidende Frage stellen: Will er wiedergewählt werden - oder sein Land vor dem Abgrund bewahren?

Das Informationsprogramm in Paris wurde organisiert von der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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