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Politik: Regeln für die Richter

Der Hamburger Prozess muss neu aufgerollt werden – und der BGH macht Vorschriften für künftige Terrorverfahren

Von Frank Jansen

Um elf Uhr war der Termin angesetzt, drei Minuten später ist es so weit: Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe hebt das Hamburger Urteil gegen Mounir al Motassadeq auf – und markiert anderthalb Jahre nach dem Beginn des weltweit ersten Prozesses zum Terrorangriff des 11. September die Rückkehr zum Nullpunkt. In dem voll besetzten, bunkerartigen Saal 133 wird aufgeregt gewispert, als der Vorsitzende Richter des 3. Strafsenats des BGH, Klaus Tolksdorf, in nüchternem Tonfall verkündet, das Verfahren gegen Motassadeq werde zu einer neuen Verhandlung an einen anderen Strafsenat des Hamburger Oberlandesgerichts zurückverwiesen. Einer der beiden Anwälte Motassadeqs, Josef Gräßle-Münscher, lächelt süffisant. Sein Kollege Gerhard Strate blickt weiter streng durch die blau getönte Brille. Gegenüber schaut Bundesanwalt Rolf Hannich emotionslos, als könne ihn nichts erschüttern.

Nur die Hauptfigur fehlt. Mounir al Motassadeq hat seine Zelle nicht verlassen. Ob der Marokkaner freikommt, wird sich in den nächsten Tagen zeigen. Anwalt Strate sagt nach dem Urteil, er werde sofort Haftverschonung fordern und erwarte für Anfang kommender Woche eine Entscheidung. Ob der im Februar 2003 wegen Beihilfe zum Mord an 3066 Menschen zu 15 Jahren Haft verurteilte Motassadeq bald seinen Landsmann Abdelghani Mzoudi besuchen kann, den die Hamburger Richter im Februar vom Vorwurf der Beteiligung am Terrorangriff des 11. September freisprachen, ist allerdings fraglich.

Der Bundesgerichtshof (BGH) sagt nämlich nicht, er halte Motassadeq für unschuldig. Dieser sei „weit davon entfernt, außer Verdacht zu stehen“, betont Richter Tolksdorf. Motassadeq bleibe „hochgradig verdächtig“. Entscheidend ist für den BGH etwas ganz anderes: Dass ein wichtiger Zeuge, der von den Amerikanern an einem unbekannten Ort festgehaltene Jemenit Ramzi Binalshibh (siehe Kasten), im Motassadeq-Prozess nicht zur Verfügung stand. Die US-Behörden hatten weder ihn noch Protokolle seiner Aussagen, die auszugsweise den deutschen Sicherheitsbehörden vorliegen, freigegeben. Woraufhin das Bundeskanzleramt die Anfragen des Gerichts mit Sperrerklärungen beantwortete. Das Hamburger Oberlandesgericht hätte sich deshalb in seinem Urteil gegen Motassadeq „nicht mit der Feststellung begnügen dürfen, dass der Tatbeteiligte Binalshibh nicht zur Verfügung stand“, sagt Tolksdorf. Die hanseatischen Kollegen hätten „den Angeklagten allein auf die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens verwiesen, sollte der Zeuge Binalshibh zu einem späteren Zeitpunkt als Zeuge zur Verfügung stehen“. Für diese Unterlassungssünde hat der BGH kein Verständnis – zumal er Binalshibh für einen besonders wichtigen Zeugen hält. „Er hätte aus unmittelbarem Erleben vom Ablauf der Anschlagsplanung und -vorbereitung sowie über den Kenntnisstand des Angeklagten berichten können“, sagt Tolksdorf. Und: Den „etwaigen Angaben“ Binalshibhs komme daher zur Aufklärung des Geschehens vor dem 11. September potenziell eine weit größere Bedeutung zu als den Indizien, die das Hamburger Gericht in der Urteilsbegründung nennt. Mit anderen Worten: Das Urteil weist nicht nur eine große Lücke auf, auch der Rest erscheint dünn.

Die Kritik allein reicht dem BGH jedoch nicht. Der 3. Strafsenat gibt nicht nur den Hamburger Richtern, sondern den Gerichten in der Bundesrepublik überhaupt Regeln für die nächsten Terrorprozesse vor. Erstens: Wenn die Sicherheitsbehörden Geheimhaltungsinteressen geltend machen, müsse ein Gericht mit einer „besonders vorsichtigen Beweiswürdigung“ reagieren und gegebenenfalls den Grundsatz „in dubio pro reo“ anwenden. Zweitens: Die Gefahr, dass ein ausländischer Staat – in diesem Fall die USA – „durch die selektive Gewährung von Rechtshilfe den Ausgang des in Deutschland geführten Strafverfahrens in seinem Sinne steuert, kann im Hinblick auf das Recht des Angeklagten auf eine faire Verfahrensgestaltung nicht hingenommen werden“, betont Tolksdorf.

Als der Richter nach ungefähr einer Stunde alles gesagt hat, wirkt Bundesanwalt Hannich etwas perplex. „Das ist eine völlig neue Rechtsprechung, die der Senat zum Problem der Beweiswürdigung in die Welt gesetzt hat“, sagt er. Und befürchtet: „Für die Verfolgung des islamistischen Terrorismus sind künftig größere Hürden aufgebaut.“

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