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Das Durchschnittsalter der Bevölkerung in Deutschland ist seit 1957 beständig gestiegen – dies wurde bei der Großen Rentenreform damals nicht berücksichtigt.

© dapd

Renten: Die Last der frühen Jahre

Deutschlands Rentensystem basiert auf dem „Generationenvertrag“ von 1957. CDU/CSU und SPD saßen damals mehreren Lebenslügen auf. Die heutigen Fachpolitiker sollten sich mit ihnen befassen.

Wer in der Rentendebatte ernsthaft mitreden will, der sollte wissen, dass wir derzeit mit einer Erblast aus dem Jahr 1957 konfrontiert sind. Damals haben im Deutschen Bundestag die Fraktionen von CDU/CSU und SPD die sogenannte Große Rentenreform beschlossen. Beide nannten ihr Werk einen „Generationenvertrag“. Das war – auch – ein angeblicher Vertrag zwischen einer Mehrheit des Bundestages und einer Generation, die erst noch geboren werden sollte. Wir lernen daraus: Unsere Väter und Großväter waren voller Vertrauen in ihre Nachkommen.

Am Ende von insgesamt 42 Stunden andauernden Debatten in der zweiten und dritten Lesung des neuen Rentengesetzes wurde Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) zum Propheten. Er ließ mitteilen, dass später einmal jeder, der gesetzlich versichert sei, mit einer Rente von 68 Prozent seines Bruttolohnes rechnen dürfe. Diese Vorhersage Adenauers rief allerdings den in der deutschen Bischofskonferenz für „soziale Fragen“ zuständigen Kardinal Joseph Höffner auf den Plan. Er warnte Adenauer vor den Konsequenzen einer derart hohen Altersrente, weil man die Arbeitnehmer und Arbeitgeber dafür mit viel zu hohen Beiträgen belasten müsse. Höffner empfahl dem Bundeskanzler, man solle sich mit einer Rente bescheiden, die etwa halb so hoch sei wie der Bruttolohn. Adenauers Antwort war kurz und bündig. Sie lautete: „Herr Kardinal, müssen Sie die nächste Wahl gewinnen oder ich?“

Lesens- und beachtenswert sind auch die Kabinettsprotokolle, die von den Diskussionen über eine neue Rentengesetzgebung handeln. Zwei Bundesminister waren mit den von Arbeitsminister Anton Storch (CDU) vorgelegten Gesetzestexten gar nicht einverstanden: Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU) und Bundesfinanzminister Fritz Schäffer (CSU). Beide enthielten sich am Ende der langen Debatte dann auch der Stimme.

Schäffer stützte sich bei seinen Einwänden auf ein Gutachten, das er selbst in Auftrag gegeben hatte. Der Verfasser, ein Versicherungsmathematiker namens Georg Heubeck, warnte vor den Risiken, die der Entwurf des Arbeitsministeriums enthalte. Erhard unterstützte die Bedenken des Finanzministers.

Die Stimmenthaltung hatte Folgen für die beiden Bundesminister. Adenauer pochte auf die Kabinettsordnung, die Gesetzeskraft besitzt, und teilte Erhard mit, dass er sich im Bundestag und seinen Ausschüssen nicht zu Wort melden dürfe. Bei Finanzminister Schäffer beließ es Adenauer nicht mit einem mündlich erteilten Verbot. Der CSU-Politiker erhielt vom Bundeskanzler einen Brief, in dem ihm dieser mit Hinweis auf die Kabinettsordnung ein Redeverbot im Bundestag erteilte.

Von einem CDU-Abgeordneten aus Baden-Württemberg konnte man erfahren, dass Adenauer das Schweigegebot für Erhard und Schäffer zunächst auch für die Sitzungen der CDU/CSU-Fraktion vorgesehen hatte. Der Fraktionsvorsitzende Heinrich Krone (CDU) habe dem Kanzler daraufhin aber mitgeteilt, dass jedes Fraktionsmitglied das Recht habe, in der Fraktion frei zu reden.

Die Bedenken, die Erhard selbst als Wirtschaftsminister nicht öffentlich äußern durfte, erwähnte dann sein fränkischer Landsmann, der damalige FDP-Vorsitzende Thomas Dehler, im Plenum. Drei Punkte waren es vor allem, mit denen Dehler den Arbeitsminister in Form von Fragen konfrontierte. Die erste bezog sich auf die im Regierungsentwurf enthaltene Annahme, dass es keinen Geburtenrückgang geben werde. Storch schwieg dazu, aber Adenauer hatte schon bei anderer Gelegenheit einen Neugierigen mit der Antwort abgefertigt: „Ach was, Kinder kriegen die Leute immer.“

Bei Dehlers zweiter Frage blieb der Regierungsvertreter ebenfalls die Antwort schuldig. Wie sich die Berechnungen der Regierung verändern würden, wenn sich das Lebensalter der Bürger erhöhe, hatte Dehler wissen wollen. Schließlich schwieg der Arbeitsminister auch, als Dehler die im Gesetz unterstellte andauernde Vollbeschäftigung bezweifelte. Eines Tages, so der FDP-Vorsitzende, müsse man mit einer gewissen Arbeitslosigkeit rechnen. 1957 erreichte das sogenannte Wirtschaftswunder seinen Höhepunkt. Die Zahl der Arbeitslosen betrug laut amtlicher Statistik ganze 112 500 Personen.

Ein Rückblick auf die „Große Rentenreform“ wäre unvollständig, ohne zu registrieren, dass damals der Beitrag zur Rentenversicherung 16 Prozent des Lohnes betrug. Inzwischen werden von Arbeitnehmern und Arbeitgebern 19,6 Prozent gefordert. Besonders fällt aber ins Gewicht, dass für die Finanzierung der Altersrente ein großer Zuschuss aus dem Bundeshaushalt notwendig geworden ist. In den vergangenen Jahren lag er stets bei etwa 90 Milliarden Euro. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass mit dieser hohen Summe auch die Finanzierung der Alters- und Invalidenrenten in den neuen Bundesländern enthalten ist, ebenso wie die Finanzierung nach den Vorschriften des Fremdrentengesetzes für Vertriebene und Spätaussiedler. Die Geburtenzahlen sind gesunken, und das Durchschnittsalter in der Bundesrepublik ist in jedem Jahr um drei Monate gestiegen. Und so erfreulich die Zunahme der sozialversicherungspflichtigen Personen auch sein mag: Von einer Vollbeschäftigung wie im Jahr 1957 sind wir meilenweit entfernt.

Bei der Suche nach einem Neubeginn für die Alterssicherung kann es nicht schaden, wenn sich die Verantwortlichen der Parteien, die einst die „Große Rentenreform“ beschlossen haben – das sind CDU/CSU und SPD – ernsthaft die Fehler vor Augen führen, die damals gemacht wurden. Man kann aus der Geschichte lernen, wenn man sie kennt. Das sollten diejenigen beherzigen, die sich zurzeit auf dem Spielfeld der neuen Rentengesetzgebung tummeln.

Der Autor führte 1972 die baden-württembergische FDP in den Landtagswahlkampf. Von 1974 bis 1976 war er Staatsminister im Auswärtigen Amt. Der 86-Jährige ist heute als freier Journalist tätig.

Karl Moersch

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