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Politik: Rentenreform: "Frauen und Familien übers Ohr gehauen"

Unter Experten, die sich mit Renten- oder mit Familienpolitik beschäftigen, hat der hessische Sozialrichter Jürgen Borchert einen guten Ruf. Zwar steht der Jurist als Schüler des katholischen Sozialreformers Oswald von Nell-Breuning den aktuellen Tendenzen in der Sozialpolitik, die solidarischen Versicherungssysteme "teilzuprivatisieren", mehr als skeptisch gegenüber.

Unter Experten, die sich mit Renten- oder mit Familienpolitik beschäftigen, hat der hessische Sozialrichter Jürgen Borchert einen guten Ruf. Zwar steht der Jurist als Schüler des katholischen Sozialreformers Oswald von Nell-Breuning den aktuellen Tendenzen in der Sozialpolitik, die solidarischen Versicherungssysteme "teilzuprivatisieren", mehr als skeptisch gegenüber. Doch seine Berechnungen werden auch von den Sozialpolitikern ernst genommen, die Borcherts politische Schlussfolgerungen nicht teilen. Der Richter am Landessozialgericht in Darmstadt hat der Bundesregierung nun am Mittwoch in einer Stellungnahme vorgeworfen, mit ihrer Rentenreform "Frauen und Familien übers Ohr zu hauen". Sollte der Bundesrat dem Gesetzentwurf nach einem Vermittlungsverfahren im März oder April zustimmen, ist sein Appell deutlich: Auf zum Verfassungsgericht nach Karlsruhe.

Borchert wirft der rot-grünen Bundesregierung vor, "dass ganz im Gegenteil zur Spendierhosen-Optik bei Frauen und Familien kräftig gespart wird". Zum Beispiel bei der Hinterbliebenenrente: 1999 machte sie mit 60 Milliarden Mark rund 16 Prozent der Rentenausgaben aus. "Faktisch wird die Hinterbliebenensicherung in den nächsten 30 Jahren abgeschafft", kritisiert Borchert. Durch die Kumulation der beschlossenen Kürzungen werde das Nettoniveau dieser Rente auf 32,5 Prozent gesenkt. Der Sozialexperte hält das für bedenklich, denn die Hinterbliebenenrente sei schließlich "vor dem Hintergrund der früher typischen Hausfrauenehe und der Kinderverteilung eine verdeckte Anerkennung der Erziehungsleistung" gewesen.

Auch die hochgelobte Förderung der neuen privaten Altersvorsorge ist nach Ansicht des Sozialrichters Augenwischerei. Für den Bund dürfte sie "ein Nullsummenspiel sein", erklärt er. Wie das? Von den rund 20 Milliarden Mark, die über Zuschüsse oder steuerliche Förderung ab 2008 aufgebracht werden, zahlt der Bund ausweislich des Gesetzes ohnehin nur neun Milliarden Mark. Laut Borchert spart er aber durch die Reform auch sieben Milliarden Mark, weil die Dämpfung der Beitragssätze dämpfend auf den Bundeszuschuss durchschlägt. Es blieben also nur zwei Milliarden Mark, mit denen der Aufbau der zusätzlichen Privatrente wirklich durch den Bund gefördert werde.

Ferner beklagt Borchert, "dass ausgerechnet Familien mit geringen Verdiensten, die sie am dringendsten brauchen, sich die Privatvorsorge am wenigsten leisten können". Er rechnet das am Beispiel einer Familie mit zwei Kindern und 60 000 Mark Bruttoverdienst im Jahr vor. Hier sehen die Pläne von Sozialminister Walter Riester (SPD) vor, dass eine solche Familie ab 2008 stolze 2400 Mark für die Privatrente spart. 594,58 Mark gibt der Staat als Grundzulage dazu, außerdem 719,74 Mark als Kinderzulage. Bleibt eine Eigenleistung von 1086 Mark.

Eine vertretbare Summe, könnte man meinen. Wer aber mit zwei Kindern lediglich über ein Einkommen von 60 000 Mark verfügt, für den entsprechen diese 1086 Mark "60 Prozent des frei verfügbaren Einkommens jenseits des Existenzminimums". Der Richter erwartet daher, dass die meisten Gering- oder Normalverdiener die Förderung nicht in Anspruch nehmen. Gleichzeitig wird ihnen das gesetzliche Rentenniveau mit der Reform aber so gekürzt, als würden sie die freiwillige private Vorsorge nutzen.

Borchert räumt ein, dass mangels konkreter Daten nur grobe Schätzungen möglich seien. Es sei "dennoch hinreichend sicher festzustellen, dass sich hinter der Spendierhosen-Pose gegenüber Frauen und Familien in Wahrheit harte Einschnitte in die Substanz frauen- und familienpolitischer Elemente des Rentensystems verbergen". Wenn der Bundesrat an diesem Freitag ein Vermittlungsverfahren über die Reform einleitet, scheint sich Borchert davon keine Verbesserungen zu erhoffen. Er rät, "diese Neuregelungen auf dem Rechtsweg über die Sozialgerichte dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorzulegen".

Carsten Germis

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