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Unter Hochspannung. Im Norden New Hampshires, an der Grenze zu Kanada, sollen in Zukunft Stromleitungen mitten durch Naturschutzgebiete führen. Die Anwohner wehren sich.

© mauritius images

Reportage aus dem Hinterland: Rebell der Wildnis

Vier Millionen bot ihm der Stromkonzern für seine Farm in New Hampshire. Eine Leitungstrasse soll hier gebaut werden. Aber Rod McAllaster wollte das Geld nicht. Weil der Mensch einen Ort braucht, den er Heimat nennen kann.

Von Anna Sauerbrey

Er hält inne und blickt über das Tal. Der Wind zaust die Goldruten, die in Büscheln aus einem Meer von rötlichen Gräsern ragen. Tannen und Felsbrocken strukturieren den Hang zu seinen Füßen. Weiter unten zieht die Herde langsam bergauf. Eine kleine Gruppe von Kühen trennt sich vom weiß und schwarz gefleckten Strom und bleibt stehen, um zu grasen. Das hier ist ihm der liebste Ort auf seiner Farm. An klaren Tagen, sagt Rod McAllaster, sieht man von hier den Mount Washington. Er zeigt hinüber zu der Bergkette, die am Horizont blaue Wellen schlägt. Es ist ein Tag im Spätsommer. Das Laub der Ahornbäume hat sich rot verfärbt, früher als sonst, es war ein trockenes Jahr. Manche seiner Wiesen sind noch nicht hoch genug für das dritte Mähen. Der Farmer kneift die Augen zusammen, studiert den Himmel und sagt: „Ich will gar nicht reich sein.“ McAllaster hofft auf Regen.

Rod McAllaster ist Milchlandwirt in vierter Generation auf diesem Stück Land weitab von allem, im Norden von New Hampshire, nahe der Grenze zu Kanada. Wenn er wollte, könnte er Millionär sein. Der Hügel, auf dem er steht, ist vier Millionen Dollar wert. Das, sagt er, war das letzte Angebot, das ihm die Northern-Pass-Gesellschaft für diesen Teil seiner Farm gemacht hat. Northern Pass ist eine gemeinsame Tochtergesellschaft der Northeast Utilities, des größten Stromanbieters im Nordosten der USA, und von Hydro Québec, einem Wasserenergie-Riesen aus Kanada. Gegründet wurde Northern Pass für die Planung und Durchführung eines 1,4-Milliarden-Dollar-Projekts, den Bau einer neuen Hochspannungsleitung. Über 180 Meilen weit soll Wasserenergie aus Kanada in den Nordosten der USA transportiert werden, montiert auf bis zu 42 Meter hohe Türme, quer durch New Hampshire und das Naturschutzgebiet der „White Mountains“, einen der schönsten Nationalparks in den Appalachen. Seit 2010 bemüht sich Northern Pass, Ländereien und Wegerechte in der Region zu kaufen – ein schwieriges Unterfangen. Die meisten Bewohner der Region sind gegen das Projekt, außerdem stehen viele Grundstücke unter Naturschutz. Der Hügel von Rod McAllaster liegt zwischen mehreren Umweltschutzgebieten und sollte der Hochspannungsleitung als Passage dienen. Doch McAllaster weigerte sich, zu verkaufen.

Indian Stream heißt die Region nahe der kanadischen Grenze, in der McAllasters Farm liegt. Der „Bluegrass“-Komponist Bob Amos nennt sie in dem Song „The Hills That I Call Home“ den Ort, „wo der Zuckerahorn wächst und die steinigen Flüsse fließen“. „Bluegrass“ ist beliebt hier, eine Variante des Country mit Wurzeln in Irland und Schottland. Die Gegend ist dünn besiedelt. Im Winter knattern Touristen aus Boston und New York auf Schneemobilen über die Pisten im Wald. Außerhalb der Ferienzeiten ist es still.

Unbeugsam. "Mir geht es nicht um Geld", sagt Farmer Rod McAllaster.
Unbeugsam. "Mir geht es nicht um Geld", sagt Farmer Rod McAllaster.

© Sauerbrey

Morgens um zehn Uhr lehnt Rod McAllaster vor dem Stall an seinem Pick-up und trinkt Kaffee. Bis in die frühen Morgenstunden haben er und sein Sohn Paul gearbeitet, jetzt ist er wieder auf den Beinen, das erste Melken steht an. Wenn das Heu gemacht wird, müssen ein paar Stunden Schlaf reichen. Für einige Wochen beschäftigen Rod und Paul jetzt eine Hilfskraft. Den Rest des Jahres bewirtschaften sie ihre 400 Hektar Land allein. 150 Kühe haben sie, 80 werden täglich zwei Mal ein- und ausgetrieben und gemolken. Richtig viel Geld verdienen sie mit der Farm nicht, aber sie überleben. Statt an die Northern-Pass-Gesellschaft zu verkaufen, schloss McAllaster einen Vertrag mit der Forest Society, einer Umweltschutzorganisation, die Teile seiner Ländereien unter Naturschutz stellte. Über die nächsten Jahre wird die Forest Society ihm dafür 825 000 Dollar zahlen, ein Viertel von dem, was ihm der Stromkonzern geboten hatte. Von der ersten Ausschüttung hat er eine neue Heumaschine gekauft, außerdem will er den Kuhstall erweitern. „Das Geld hilft, damit die Farm überlebt“, sagt McAllaster.

Er zieht das Tier für den Kühlschrank auf

Im Halbdunkel des Stalls verscheuchen die Kühe mit trägem Schwanzschlag die Fliegen. Paul, 34 Jahre alt, kurzer, rötlicher Bart, eilt den Mittelgang entlang, in jeder Hand zwei Melkadapter, lange Schläuche, von denen die Halterungen für die Zitzen baumeln wie tote Tintenfische. Er steckt einen der Schläuche an die Vakuumsauganlage, die die Milch vom Tier zum Tank befördert, geht neben einer Kuh in die Knie und befestigt die Schläuche an den Zitzen. Rod McAllaster greift sich eine Schaufel und rammt einer liegenden Kuh den Stiel in die Flanken. Das Tier hievt sich hoch. 80 Kühe in einem Stall, sagt der Farmer, das ist so, als kämen 80 Leute zusammen. Jede gibt anders Milch, jede hat einen eigenen Charakter. So eine Kuh, sagt er, ist Hightech, blöd, aber kompliziert. Man muss sie bei Laune halten.

Etwas abseits von den anderen Kühen liegt ein Angus-Rind. Ein Tier dieser Rasse zieht McAllaster jedes Jahr „für den Kühlschrank“ auf. Es ist das einzige Tier, das den Stall nie verlässt. Wenn es groß genug ist, wird er es im staubigen Hof vor dem Stall schlachten. Er wird es mit einem Kopfschuss töten, die Kehle des Tiers durchschneiden und es ausbluten lassen. Weitere Schnitte zertrennen die Haut entlang der Hinterläufe bis zum Rücken, sie lässt sich dann gut von hinten nach vorne abziehen. Zum Zerteilen des Körpers benutzt McAllaster eine kleine Motorsäge. Die besten Teile kommen als Steaks in die Pfanne. Weil sich das Rind wenig bewegt hat, ist sein Fleisch so zart, dass man es mit der Gabel zerteilen kann, sagt McAllaster.

Rod McAllaster hat Indian Stream noch nie verlassen. Die Highschool hat er in Colebrook besucht, ein paar Meilen den Berg hinunter an der Landstraße. Aus diesem Ort kam auch das Mädchen, das er heiratete. Nach dem Tod seines Vaters übernahm er die Farm.

Auf zwei Dinge, singt der „Bluegrass“-Sänger Bob Amos, kann man sich verlassen in dieser unordentlichen Welt. Jede Jahreszeit geht einmal zu Ende. Und jeder Mensch hat seinen Platz.

Auf dem Satellitenbild verschwimmen die Goldruten und Tannen, Felsen und Kühe auf McAllasters Farm zu einer grünbraunen Fläche. Die Naturschutzgebiete zu beiden Seiten davon sind auf dem Computerbildschirm mit einem helleren Grün markiert.

Sie schickten eine Verwandte zu ihm. "Die sollte mir gut zureden."

Dazwischen durchziehen nummerierte rote Punkte die Landschaft, DC 214, DC 215, DC 216, D 217, die geplanten Strommasten. Während die McAllasters nach dem Melken die Kühe auf die Weide treiben, herrscht im Gemeindehaus von Pittsburg, 30 Meilen entfernt, großer Andrang. Northern Pass hat zum „Open House“ geladen. Bei der Veranstaltung können sich die Bürger über das Bauprojekt informieren. Auf der Straße hält ein Ehepaar Protestschilder in die Höhe: „Stop Northern Pass.“ Drinnen lehnt sich Paula Fletcher, eine Pfarrerin aus Colebrook, über die Schulter eines untersetzten Mannes in Hemd und Krawatte. Jim Wagner, Hochbauingenieur bei Northern Pass, rückt mit der Maus die Ländereien von Rod McAllaster entlang der Kette aus roten Strommasten an den oberen Rand des Bildschirms, dafür erscheinen unten graue Rechtecke, die Häuser von Colebrook, und weitere Strommasten. „Kann ich die von meinem Haus aus sehen?“, fragt die Pfarrerin. Wagner zieht mit der Maus eine Linie über den Bildschirm. Ein Fenster mit Geodaten öffnet sich. „Straße auf 900 Fuß, Strommasten auf 1000, sehr starke Steigung auf kurzer Strecke“, fasst Wagner zusammen. „Nein, die werden Sie nicht sehen.“

Trotz der Weigerung von Rod McAllaster, sein Land zu verkaufen, setzt das Unternehmen die Vorbereitungen für den Bau fort. In dem kritischen Streckenabschnitt über die Farm will Northern Pass die Kabel nun unterirdisch verlegen, auch wenn die 7,5 Meilen Tunnelbau nach Angaben des Unternehmens zu Mehrkosten von 110 Millionen Dollar führen werden.

Im Gemeindehaus haben Mitarbeiter von Northern Pass Stände mit Plakaten und Broschüren aufgebaut. Mike Skelton, der Sprecher der Gesellschaft, schüttelt Hände. Er sei zuversichtlich, dass Washington das Projekt genehmigen werde, sagt er. Diesen Sommer hat Obama angekündigt, ernst zu machen mit der Reduzierung der Treibhausgase und stärker in erneuerbare Energien zu investieren. „Wir passen ins Bild“, sagt Skelton. Schwierig wird die Genehmigung der Behörden vor Ort. Dafür gilt es, die Bürger zu gewinnen. 1200 neue Arbeitsplätze verspricht Northern Pass und einen sechsstelligen Zuwachs bei den Einnahmen aus der Grundsteuer in vielen Orten entlang der Strecke. Es gibt Kaffee und Kuchen.

Rod McAllaster hat auch so ein „Open House“ besucht, vor einigen Wochen. Schon der Gedanke daran macht ihn wütend, seine Kiefer zermahlen die Worte: „Dialog! Bei mir rief als Erstes dieser Immobilienmakler an. Fragte, ob ich in die Stadt kommen könne. Ich sagte, wenn Sie etwas von mir wollen, müssen Sie schon hier rauskommen. Er kam dann, mit seinem Boss. 2012 war das. Die hatten sich vorher kundig gemacht über mich, die kannten meine ganze Familiengeschichte und wussten, das ich Waffen sammle. Ich sagte nein.“

„Dann schickten sie das Mädchen, eine Verwandte von mir. Die sollte mir gut zureden. Als Kind hat sie viel Zeit hier auf der Farm verbracht. Jetzt ist sie mit einem zusammen, der arbeitet für die. Die kaufen die Leute! Ja, so ist das, wenn das dicke Geld vorbeikommt.“

„Aber man kann denen nicht trauen. Das sind Kanadier. Wir werden wirtschaftlich von einem fremden Land übernommen, und in Washington kümmert das keinen.“

„Manche sagen, dass man von der Strahlung Krebs kriegen kann. Meine Enkel sollen auch noch hier leben. Wer kann mir sagen, dass es dann noch sicher ist?“

„Aber die glauben ja, ich bin nur so ein blöder Farmer. Die denken, Landwirtschaft, das ist sowieso nichts mehr wert. Essen ist billig. In den Städten kaufen sie Lebensmittel und schmeißen dann die Hälfte weg.“

„Ich sage: Auf die Werte kommt es an. Wenn sie die Leute gleich am Anfang wie Menschen behandelt hätten, dann wäre es vielleicht besser für sie gelaufen. Aber wenn du die Menschen hier wie Tiere behandelst ...“

„Wenn man eine Scheune gut baut“, sagt der Alte, „hält sie ewig und einen Tag.“

Nachdem sie die Kühe auf die Weide getrieben haben, schließt McAllaster das Gatter und steigt in seinen Pick-up. Er fährt zu einer seiner Wiesen, wo Erwin, der Aushilfsarbeiter, seit dem Morgen mäht. McAllaster will beim Verpacken und Verladen der Heuballen helfen. Nach einigen hundert Metern rumpelt der Pick-up an einem gepflegten weißen Holzhaus vorbei. McAllaster hält es instand, obwohl niemand mehr hier wohnt. Hier lebten einmal die Flanders. Sie waren die Ersten hier, 1850 kauften und rodeten sie das Land. Ihre Milch verarbeiteten sie zu Butter. In großen Blöcken wurde sie auf Pferdekarren nach Colebrook transportiert und von dort mit der Eisenbahn nach Boston. McAllasters Großvater wuchs bei der Familie auf, und als die Flanders starben, vermachten sie ihm ihr Land. Die Zeit der Pferdekarren, sagt McAllaster, habe ich nicht mehr erlebt. Es klingt, als bedauerte er das.

Ich wurde auf einem Hügel geboren, singt der „Bluegrass“-Musiker Bob Amos, wo mein Vater vor mir lebte und mein Großvater vor ihm. Wir glaubten an das einfache Leben. Alles, was wir brauchten, war unsere Freiheit. Und einen Ort, den wir Heimat nennen konnten.

Im Country-Club von Colebrook reicht die Forest Society am späten Nachmittag Schnittchen. Die Umweltschutzorganisation gehört zu den größten Landbesitzern in der Region – und zu den härtesten Gegnern des Bauprojekts. Etwa 20 lokale Mitglieder sind der Einladung gefolgt. Rod McAllaster war auch eingeladen, doch er hat abgesagt, Heusaison. Seine Weigerung zu verkaufen, hat den Umweltschützern Hoffnung gemacht, das ganze Projekt noch stoppen zu können. Jane Defly, die Präsidentin, sagt ein paar Worte: „Wir wissen nicht, was sie als Nächstes tun werden, aber wir versichern Ihnen, dass unsere Mitarbeiter hochgradig entschlossen sind, sich auch weiterhin dem Projekt entgegenzustellen.“ Die Forest Society stellt unter anderem infrage, ob die bestehenden Wegerechte entlang der Straße über die Ländereien von McAllaster für einen Tunnelbau ausreichen. Das Projekt werde sicher vor Gericht landen, sagt eine Mitarbeiterin. Das könne noch Jahre dauern.

In dem Song „Mr. Bedford’s Barn“ erzählt der Sänger Bob Amos die folgende Geschichte: Ein Vater und ein Sohn kommen eines Abends nach der Chorprobe zurück zu ihrer Farm. Vor ihrer Tür wartet ein alter Mann. Er bittet die beiden, sich die Scheune ansehen zu dürfen. Er erzählt, dass er und sein Vater sie 1899 auf einem Felsen erbaut hätten, ohne Nägel, nur mit Stiften aus Holz. Vor seinem Tod wolle er sie noch einmal sehen. „Wenn man eine Scheune gut baut“, sagt der Alte, „hält sie ewig und einen Tag.“

Am Abend beginnt es zu regnen. Eben ist Rod McAllaster mit dem Einpacken der Heuballen fertig geworden. Nun platschen schwere Tropfen auf die Blätter der Himbeersträucher am Feldrand. Sie rinnen an der Plastikfolie der verpackten Heuballen hinab und an der Windschutzscheibe des Pick-ups, als sich der Farmer auf den Rückweg macht. Der Boden ist noch warm. Der Regen verdampft rasch, Nebel legt sich über das Tal wie ein Schleier aus Zeitlosigkeit, aus dem nur die Wipfel der Ahornbäume ragen und irgendwo, in einiger Entfernung, das Dach der Scheune.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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