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Reportage: Der Marsch der libyschen Straßenkämpfer

Sie haben nie gelernt, mit Waffen umzugehen. Nun müssen sie es. Auf dem Weg nach Westen werden die libyschen Rebellen immer wieder gestoppt. Kaum organisiert, schlecht ausgerüstet, bleiben ihnen im Kampf um Freiheit die eigene Courage – und Geduld.

Mit einem Satz springt Abdullah Ali Muftah auf die Kühlerhaube seines grünen Landrover Defender. „Rennt nicht einfach nach vorne, die wollen euch reinlegen. Teilt euch in Gruppen auf und ernennt einen Anführer“, ruft er und gestikuliert. „Hier gibt es viele Verräter. Die geben sich als Rebellen aus und schießen dann auf uns“, beschwört der Ex-Feldwebel die bunte Schar der Krieger, die seinen Wagen umringt.

Es sind Ingenieure, Bankbeamte und Lehrer, aber auch viele Studenten und Nachbarn aus den Rebellenstädten Bengasi, Al Baida und Tobruk. Ihre fehlende militärische Ahnung ersetzen diese Ad-hoc-Krieger durch überschäumenden Enthusiasmus. Die einen haben sich einen Polizeijeep aus dem Hafen von Bengasi organisiert und ein Maschinengewehr darauf festgeschweißt, andere „besorgten“ sich eine kleine Flak aus einem Armeedepot. Wer auf dem Weg zur Front keine Schusswaffe gefunden hat, stolziert wenigstens mit einem Fahrtenmesser oder einem Patronengurt herum.

Irgendwo westlich der Ölstadt Ras Lanuf, auf der endlosen Küstenstraße auf halbem Weg zwischen der Rebellenhochburg Bengasi und Sirte, der Heimatstadt Muammar al Gaddafis, ist der schnelle Vorstoß der Aufständischen zum Stehen gekommen. Zum zweiten Mal innerhalb von drei Wochen. Hinter ihnen liegen sechs Stunden lange Nachschubwege, vor ihnen dicht gestaffelte Stellungen aus Gaddafis Panzern, Raketenwerfern und Minengürteln.

„Das Regime ist den Aufständischen militärisch himmelhoch überlegen“, urteilte der zuständige US-Kommandeur für Afrika, General Carter F. Ham. Gaddafis Einheiten könnten die Rebellen entlang der Küstenstraße „sofort wieder weit zurückdrängen. Der einzige Grund, warum das bisher nicht passiert, sind die Flugzeuge der Koalition“. Den Aufständischen hielt er vor, die gleichen Fehler zu machen wie beim ersten Vorstoß in Richtung Tripolis. Sie agierten chaotisch, rückten viel zu schnell vor, errichteten keine festen Verteidigungslinien und hätten keine klare Führung.

Allerdings ließ das Militärkommando der Rebellen während der vergangenen Tage drei dutzend Panzer, Radpanzer und Geschütze auf Tiefladern nach Bengasi holen, die Einheiten Gaddafis nach westlichen Luftangriffen unbeschädigt zurückgelassen hatten. Mit ihnen wollen die Aufständischen nun die Stadt noch effektiver verteidigen. Auf dem Schlachtfeld sollen die schweren Kettenfahrzeuge aber nicht eingesetzt werden: die alliierten Jets können sie nämlich von Gaddafis Gerät nicht unterscheiden.

Von Ferne sind mehrere Stunden lang dumpfe Einschläge von Grad-Raketen zu hören, dunkler Rauch steigt auf. Krankenwagen rasen mit Verletzten davon, während andere Kampfkameraden hilflos Gewehrsalven in die Luft feuern. Von vorne kommen in panischer Flucht ganze Rudel von Rebellenautos zurück, ein Pickup stottert mit glühender Felge vorbei. Verächtlich zeigt Abdullah Ali Muftah auf das beige lackierte Kanonenrohr, das er vorne auf seinen Jeep geschnallt hat. Damit könne man fünf Kilometer weit schießen, sagt er, mit den Grad-Raketen und den modernen Panzern dagegen zwischen 20 und 35 Kilometer. Ihren Feind bekommen die Rebellen meist nicht zu Gesicht.

„Ich kenne die Gegend hier“, sagt der 55-Jährige, der nach seiner aktiven Militärzeit lange als Fahrer der ansässigen Ölfirma gearbeitet hat. Er weiß: Je mehr sich die ortsunkundigen Rebellen in Richtung Westen bewegen, desto häufiger tappen sie in blutige Hinterhalte.

Hätten nicht in den vergangenen Tagen alliierte Kampfjets nachts jedes Kriegsfahrzeug Gaddafis im Osten Libyens mit Raketen zu Schrott geschossen, hätte es keinen Vormarsch der Rebellen gegeben. Je enger die Luftschläge jedoch mit dem Vormarsch verzahnt erscheinen, desto stärker werden die ausländischen Jagdflieger de facto als Kriegspartei in den sich ausbreitenden Bürgerkrieg verwickelt.

Um diesem Dilemma zu entgehen, denken nicht nur Frankreich, auch die USA inzwischen offen darüber nach, einer Forderung des Übergangsrates in Bengasi nachzukommen und die Rebellen mit Waffen zu beliefern. So sollen sie den Vormarsch aus eigener Kraft schaffen können. Allerdings, hatte US-Außenministerin Hillary Clinton noch während der Londoner Libyen-Konferenz gesagt, wolle man zunächst noch genauere Informationen über die libyschen Aufständischen bekommen. Gerüchte besagen, dass sich unter denen auch islamistische Terroristen befinden könnten.

„Wir schauen uns alle Optionen an, wie wir die Opposition unterstützen können“, erklärte US-Präsident Barack Obama Dienstagnacht in einem Fernsehinterview. Eine Entscheidung über direkte Militärhilfe allerdings sei noch nicht gefallen. „Ich schließe es nicht aus, ich schließe es auch nicht ein“, sagte er. Zunächst sei man dabei, das Vorgehen von Gaddafis Truppen zu analysieren.

Anders Fogh Rasmussen, Generalsekretär der Nato, lehnt es hingegen strikt ab, die Aufständischen mit Waffen zu versorgen. Die UN-Resolution 1973 erlaube so etwas ohnehin nicht, meint er. Der britische Premierminister David Cameron äußerte zwar Bedenken, wollte Waffenlieferungen aber nicht grundsätzlich ausschließen. Ebenso wie die französische Regierung. Russland und Italien hingegen wollen keine Waffen liefern, genauso wie Belgien, Norwegen und auch Deutschland.

In Libyen sind die Ortschaften entlang der Küstenstraße mittlerweile menschenleer, die meisten Bewohner sind geflohen und die Geschäfte verriegelt. Es gibt keinen Strom, keine Lebensmittel, kein Telefon, nur das Wasser fließt noch. Viele Rebellen haben die Nacht am Ortseingang von Ras Lanuf auf Bürgersteigen verbracht. Schmuddlige Matratzen reihen sich aneinander, Wolldecken, Gewehre und Fahrzeuge. An der Seite lagern gestapelte Holzkisten voll mit nordkoreanischer Munition. „Danke Sarkozy“ hat jemand auf eine weiße Betonmauer geschrieben. Der Asphalt ist übersäht mit leeren Wasserflaschen, Essensresten, Patronenhülsen und Konserven. Die Kost sind Datteln, Sandwiches mit Bohnen, Thunfisch und Reis – alles wird im Ameisentransport per Pkw von Bengasi aus an die Front gefahren.

Plötzlich knallen wieder Schüsse, quietschen Reifen, drei, vier Rebellenautos rasen hinter einem weißen Chevrolet her, in dem Gaddafi-Leute sitzen sollen. Nach einer Weile kommen die Verfolger hupend, schreiend und schießend mit einem Lederamulett, einem Gewehr und einem dicken Bündel Geldscheine als Trophäen zurück. Gaddafis Männer hätten sich ihnen genähert, plötzlich aus dem Auto heraus das Feuer eröffnet und mehrere angeschossen, erzählen sie.

Auch andere Bewohner der Gegend sind dem Regime offenbar treu und lassen Soldaten aus ihren Häusern heraus auf die Rebellen zielen. An einer Stelle hatten Einheiten Gaddafis zwei Panzer mit weißen Flaggen aufgestellt. Als die aufgeregte Rebellenschar herbeieilte, beschoss sie ein dritter Panzer – es gab viele Tote.

Auch neben der Küstenstraße in den Sanddünen oder angrenzenden Wüstenstreifen halten sich Kommandos der Armee mit wendigen Toyota-Jeeps versteckt. Sie lassen die ortsunkundigen Rebellen passieren und fallen ihnen dann mit Maschinengewehren in den Rücken. Vielen hat ihre Unerfahrenheit bereits das Leben gekostet – und in Bengasi werden die schwarzen Bretter, auf denen die Listen mit Namen der Vermissten angebracht sind, immer länger.

Augenzeugen berichten, dass im Bereich der Front zahllose gefallene Kämpfer liegen, die niemand bisher bergen konnte. Ramzi al Awami, ein junger Chirurg im Krankenhaus von Ajdabija – eine Stadt, deren Befreiung die Aufständischen am letzten Wochenende gerade erst ausgelassen gefeiert haben – hat während der Besatzung durch Gaddafis Truppen tagelang im Krankenhaus übernachtet. Alle Patienten wurden nach Bengasi verlegt. Zweimal zwangen ihn Gaddafi-Soldaten mit Gewehr im Anschlag, einen ihrer Verwundeten zu operieren. In den letzten Tagen dann hat er 14 getötete Rebellenkrieger geborgen und provisorisch auf dem Gelände bestattet, sagt er. Von ihren Gesichtern machte er Fotos, allen Gräbern gab er eine Nummer. In ruhigeren Zeiten will er die Bilder in Bengasi am Justizpalast aushängen.

„Die meisten Rebellen sind Zivilisten, haben nur leichte Waffen und sehr wenig militärische Erfahrung“, sagt Feldwebel Muftah, der sechs Jahre im Tschadkrieg gekämpft hat. „Ich bin frustriert, weil wir so schlecht organisiert sind.“ Solange die internationale Gemeinschaft ihre Flugzeuge schicke, könne Gaddafi den Osten Libyens nicht mehr zurückerobern, sagt er und schätzt: „Unser Marsch nach Westen aber wird wohl noch länger dauern.“

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