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Republik Freies Wendland: Protest auf sandigem Boden

Vor 30 Jahren gründeten Umweltschützer die "Republik Freies Wendland" gegen die Atommüllkippe in Gorleben.

Als tausende Atomkraftgegner am 3. Mai 1980 die Bohrstelle 1004 über dem Gorlebener Salzstock besetzen und die „Republik Freies Wendland“ ausrufen, deckt Lilo Wollny ein paar Dörfer weiter in ihrem Haus den Esstisch ein. „Wir hatten an dem Wochenende Konfirmation und jede Menge Verwandtschaft zu Besuch“, erinnert sich die heute 84-Jährige, die seit der Benennung von Gorleben als Atomstandort im Widerstand aktiv ist.

Mit der Besetzung wollen Umweltschützer die Tiefbohrungen stoppen, mit denen Bund und Stromwirtschaft den unterirdischen Salzstock auf seine Eignung als Atommüllkippe erkunden. Montagmorgen sind die Konfirmationsgäste endlich abgereist. Lilo Wollny fährt auf den besetzten Platz und fragt, was es für sie zu tun gibt. „Die brauchten noch jemanden, der die Verpflegung organisierte“, erzählt sie. „Ich wurde also die Küchenfee und habe mit dafür gesorgt, dass hunderte Menschen über einen Monat lang jeden Tag was zu essen hatten.“

Auf sandigem Boden errichten die Besetzer ein großes Rundhaus für Versammlungen und dutzende Wohnhütten aus Baumstämmen, Stroh und Glasflaschen. Am Dorfrand entstehen eine Batterie von Latrinen, eine Krankenstation, ein Schweinestall und ein Passhäuschen mit Schlagbaum, wo „Wendenpässe“ ausgestellt werden und über dem die grün-gelbe Wendlandfahne flattert.

Die Behörden in Niedersachsen sind empört und verurteilen den „Rechtsbruch“. Landesinnenminister Egbert Möcklinghoff (CDU) sagt bei einem Besuch im Wendland, dass die „scheinbare Idylle und das rechtschaffene, ärmliche und gewaltlose Bild nur Kulisse“ seien. Eine Holzhütte mit der Bezeichnung „Fritz-Teufel-Haus“ hält für die Anschuldigung der Lüneburger Bezirksregierung her, die „Republik Freies Wendland“ sei ein Refugium für Terroristen.

Der Häuserbau und die frische Luft machen hungrig. „Oft hatten wir abends keine Ahnung, was es am Morgen zum Frühstück geben würde“, erzählt Lilo Wollny. „Es klappte aber immer“. In den Anfangstagen bringen Bauern Kartoffeln und Gemüse, Bäcker das Brot vom Vortag. Frauen aus den Wendland-Dörfern backen Kuchen, die im Dorf gegen eine Spende verkauft werden. „So kamen wir an Geld, um selber was einzukaufen.“

Das drängende Trinkwasserproblem ist ebenfalls schnell gelöst. Besetzer bohren einen Brunnen und pumpen das Wasser von dort ins Dorf. Auch die von einer Baumschule gespendeten Büsche und Kiefernsetzlinge, die wegen der Trockenheit einzugehen drohen, können nun begossen werden. In der „Republik Freies Wendland“ gibt es sogar Sonnenduschen und ein Schwitzbad, das Wasser in den Tanks wird durch einfache Solarzellen erwärmt.

An den Wochenenden reisen tausende Neugierige an, das Dorf wird zur touristischen Attraktion von Kaffeefahrten und Familienausflügen. Manche Gäste wollen nur mal gucken, andere bringen Werkzeug mit und helfen beim Häuserbau. „Eines Abends tauchen unverhofft ein paar Damen im Abendkleid und Herren im Smoking auf und überreichen etwas verlegen Platten mit Häppchen, die von einer Geschäftseinweihung übrig geblieben sind“, schreibt eine Zeitung. Auch Gerhard Schröder, damals Bundesvorsitzender der Jusos, macht dem Hüttendorf seine Aufwartung.

Schnell sind die ersten tausend Wendenpässe verkauft. Die Einnahmen, ein Pass kostet zehn Mark, füllen die Dorfkasse auf. Das Dokument ist laut Aufdruck „gültig, solange sein Inhaber noch lachen kann“. Die in einer eigenen Münzpräge hergestellten Geldstücke – Währungseinheit ist der „Wend“ – können sich als Zahlungsmittel indes nicht durchsetzen.

Kein Dorfabend ohne Kulturprogramm. Umsonst und draußen spielen Rockbands, Folkgruppen, Theaterkollektive. Wolf Biermann und Walter Moßmann treten auf, ein Jugend-Sinfonie-Orchester und die „Theaterwehr Brandheide“ aus dem Wendland. Göttinger Theologiestudenten bauen im Dorf eine Holzkirche. Rund 100 Besucher kommen zum ersten Gottesdienst. Die hannoversche Landeskirche hat kurz zuvor ein Predigtverbot für einen Pfarrer aus dem nahen Gartow erlassen.

„Radio Freies Wendland“ geht am 18. Mai erstmals auf Sendung. Der Sender berichtet live auch von der Räumung durch die Polizei. Polizisten hören die Übertragung mit: „Radio Freies Wendland tönt unentwegt aus dem kleinen Transistorradio, das ein Kollege mitführt“, berichtet ein Beamter. „So erfahren wir auch das, was wir nicht sehen können.“ Die Räumung erfolgt am 4. Juni. 5000 Dorfbewohner stehen und sitzen rund 10 000 Polizisten und Grenzschützern gegenüber, die das Dorf im Morgengrauen umstellt haben. Riesige Hubschrauber donnern im Tiefflug über die Baumwipfel. Viele Beamte sind vermummt oder haben ihre Gesichter geschwärzt. Die Küchencrew hat ihren letzten Einsatz. „Wir haben noch Tee und Suppe gekocht, als die Räumung schon begann“, berichtet Lilo Wollny. Die Beamten zerren die Demonstranten aus der Menge und laden sie auf der anderen Seite der Absperrungen wieder ab.

Viele Menschen weinen, als Bulldozer die Hütten platt walzen. Der Fotograf Günter Zint, der die kurze Geschichte der Republik Freies Wendland in einem Bildband dokumentiert hat, beobachtet aus dem Fenster eines Hauses den Aufmarsch der Staatsmacht. Sekunden nachdem er das Gebäude verlässt, rammt ein Raupenfahrzeug den Bau. Die Hütte fällt in sich zusammen. „Reine Glückssache“, sagt Zint, „dass ich diese Situation überlebt habe.“

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