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Politik: Rettet den Westen!

Von Antje Vollmer

Begegnung der dritten Art: Wer vom Osten Berlins gen Westen, nach Charlottenburg oder Wilmersdorf, fährt, wird Zeuge einer kulturellen Verödung, wie man sie früher nur in umgekehrter Himmelsrichtung kannte. „Der neue Osten“ überschrieb das Stadtmagazin „Zitty“ eine Serie über den alten Berliner Westen. Einst elegant anmutende Flaniergegenden sind zu schäbigen Rabattmeilen verkommen, es regiert der „geile Geiz“. Die Wilmersdorfer Straße oder das EuropaCenter, sogar der Kudamm wirken wie Mahnmale ökonomischer und kultureller Depression. Was an der Krise des Westens noch dramatischer ist: Immer mehr bedeutsamen, über Jahrzehnte gewachsenen Kultur-Institutionen wird die öffentliche Unterstützung entzogen: Die Deutsche Oper ist Gegenstand obszöner Abwicklungsüberlegungen; die Komödie am Kurfürstendamm ist von den Abrissplänen eines Investors bedroht; ein Kino schließt nach dem anderen. Die Urszene dieses schleichenden Verfalls war die Schließung des Schiller-Theaters 1993. Hat die Berlin-Mitte- Manie der letzten Jahre die Verantwortlichen blind gemacht für das, was im alten Westen an kultureller Substanz bedroht ist? Es gibt dort immer noch ein kulturell hoch gebildetes Publikum – gerade auch in ärmeren Schichten! Wer einmal eine Aufführung in der Deutschen Oper besucht hat, spürt dies. Wird aber der schillernde Event zum Nonplusultra großstädtischer Kultur erklärt, verschwindet jene kulturelle Substanz und Treue, von der alle festen Häuser allein leben können.

Was wir für Deutschland als Ganzes nicht wollen – die zentralistische Konzentration allen Kulturlebens in der Hauptstadt – das können wir erst recht für Berlin nicht wollen. Auch hier muss uns an Vielfalt und gleichberechtigter Koexistenz von Tradition und Innovation gelegen sein. Kultur bleibt einer der letzten Standortfaktoren von Berlin. Diese Ressource muss gepflegt werden und klug verteilt bleiben. Sind die Kulturinstitutionen doch lebendige Zentren, um die sich der eigene Kiez aus Restaurants, Geschäften und Cafés bilden kann. Da ist der Hinweis auf die Nachfrage der Touristen kein Gegenargument: Das alte Westberlin Walter Benjamins, Stresemann, die Orte der Studentenrevolte – auch dafür interessieren sich viele Berlinbesucher.

In Zeiten knapper Kassen sind monetäre Maßnahmen schwer zu erhoffen. Was der Berliner Westen braucht, sind neue Mythen – und zumindest ein Problembewusstsein der Stadtoberen. Die Substanz muss sich selbstbewusst eine neue Identität schaffen, nur so kann West-Berlin den Rabattzonen und den Marketingstrategien einer ständigen Deklassierung etwas entgegensetzen.

Die Autorin ist Vizepräsidentin des Bundestags und Grüne. Sie schreibt die Kolumne im Wechsel mit Richard Schröder und Wolfgang Schäuble.

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