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Politik: Revolte der Armen

Der Radikalenchef al Sadr nutzt die Unzufriedenheit, um seinen Machtanspruch unter den Schiiten anzumelden

STEHT DER IRAK VOR EINEM BÜRGERKRIEG?

Eines eint viele Schiiten und Sunniten im Irak: ihre Ablehnung der amerikanischen Besatzung. Die Kämpfe zwischen schiitischen Anhängern des jungen Muktada al Sadr und Besatzungssoldaten haben zumindest eine neue Front eröffnet. Denn bisher gingen die Angriffe auf die Besatzungssoldaten meistens von sunnitischen Gruppen aus. Politische Beobachter sehen den Irak nun auf dem Weg in einen Bürgerkrieg.

Die schiitische Bevölkerungsmehrheit im Irak hat bisher abgewartet, ob sie nach jahrzehntelanger Unterdrückung im neuen politischen System die ihnen zustehende Macht erhält. Sie folgte den Anweisungen des Großajatollahs Ali al Sistani, der von den meisten Schiiten als oberster Religionsführer anerkannt wird. Sistani hatte zu Geduld und friedlichen Demonstrationen aufgerufen und gleichzeitig beim amerikanischen Zivilverwalter die politischen Forderungen der Schiiten vertreten. Von dieser Linie hat sich Muktada al Sadr, der aus einer angesehenen religiösen Gelehrtenfamilie Iraks stammt, jetzt verabschiedet. In einer Erklärung rief er seine Anhänger auf, den „Feind zu terrorisieren“. Friedliche Demonstrationen seien sinnlos angesichts eines „Feindes“, der Menschen „verachtet“.

Zwar folgt die Mehrheit der Schiiten den Weisungen Sistanis, aber der kindlich wirkende Sadr findet seine Gefolgschaft in den Vorstädten und Slums des Landes wie in Sadr-City, einem verarmten Stadtteil Bagdads, in dem zwei Millionen Schiiten leben. Hier hatte er gleich nach dem Sturz des Regimes seine Macht etabliert. Seine Anhänger boten Sicherheit und organisierten soziale Dienste. Die Menschen der ehemaligen Saddam-City warten bisher vergeblich auf eine Verbesserung ihrer Lage: 60 Prozent sind arbeitslos. Das trifft vor allem junge Leute. Denn 70 Prozent der irakischen Bevölkerung sind jünger als 20 Jahre. „Diese jungen Menschen folgen jedem, der ihnen ihre Würde und ein Gefühl von Macht gibt“, analysiert ein Politologe der Bagdad- Universität, Hassan al Ani.

Muktada al Sadr, dessen Alter auf 31 geschätzt wird, gibt selbst kaum Interviews. Seine Berater und Sprecher machen einen unprofessionellen und unreifen Eindruck: Sie widersprechen sich gegenseitig und verließen schon einmal wortlos einen Interviewtermin in Bagdad, nachdem sie die unverschleierte Autorin dieses Artikels erblickt hatten. Sadr lebt vom Ansehen seiner Familie, aus der zahlreiche verehrte schiitische Religionsführer stammen: Sein Vater war ein regimekritischer Ajatollah, der 1999 mit seinen beiden ältesten Söhnen vom Saddam-Regime ermordet wurde. Die Gruppe verfügt über etwa 10 000 Milizionäre, die in der „Mahdi-Armee“ organisiert sind.

Auslöser für die Proteste, die am Montag in Basra zur Besetzung des Gouverneurssitzes führten, war das Verbot der Tageszeitung „Al Hawsa“, die als Sprachrohr der Gruppe gilt. Am Sonnabend hatten Besatzungstruppen außerdem einen engen Vertrauten Sadrs im Zusammenhang mit der Ermordung eines rivalisierenden Klerikers im vergangenen April festgenommen. Darüber hinaus könnte es auch sein, dass Sadr die Gelegenheit nutzen wollte, sich wieder in den Vordergrund zu spielen, nachdem er monatelang im Schatten von Schiitenführer Sistani gestanden hatte. Ermuntert wurde er durch die immer härtere Kritik, die auch Sistani in den vergangenen Wochen übte: So erkennt Sistani die Interims-Verfassung nur unter Vorbehalt an und weigert sich, mit den Vereinten Nationen über die Übergabe der politischen Macht zu sprechen. Während Sistani auch am Wochenende zur Ruhe aufrief, scheint Sadr den Unmut der Schiiten zum Ausbau seiner Machtposition nutzen zu wollen.

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