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Politik: Richard Schröder über das Wagnis der Gründer: "Die Menschen riskierten Gefängnis und Lagerhaft"

Die deutsche Nationalstiftung hat die Gründer und Erstunterzeichner des Gründungsaufrufs von "Aufbruch 89 - Neues Forum" mit ihrem zum vierten Mal verliehenen Nationalpreis ausgezeichnet. Überreicht wird der Preis morgen ab 15 Uhr in einem Festakt in der Gethsemanekirche in Berlin-Prenzlauer Berg unter anderem an den Bürgerrechtler Jens Reich.

Die deutsche Nationalstiftung hat die Gründer und Erstunterzeichner des Gründungsaufrufs von "Aufbruch 89 - Neues Forum" mit ihrem zum vierten Mal verliehenen Nationalpreis ausgezeichnet. Überreicht wird der Preis morgen ab 15 Uhr in einem Festakt in der Gethsemanekirche in Berlin-Prenzlauer Berg unter anderem an den Bürgerrechtler Jens Reich. Die Laudatio hält der Theologe Richard Schröder. Die Festansprache hält der Historiker Charles S. Maier über das "Verschwinden der DDR". Die Gethsemanekirche war vor der Wende Kristallisationspunkt zahlreicher regimekritischer Veranstaltungen. Der Tagesspiegel veröffentlicht nachfolgend eine Würdigung des Neuen Forums durch Richard Schröder und einen Rückblick auf dessen Entstehungsgeschichte und Nachwirken von Jens Reich.

Wann ist die deutsche Einheit vollendet? Ich möchte zwei Kriterien vorschlagen. Erstens: wenn sich Ostdeutsche und Westdeutsche so gut und so schlecht verstehen wie Ostfriesen und Bayern. So weit sind wir wahrscheinlich jetzt bereits oder mindestens bald. Und zweitens: wenn wir in Umrissen unsere gemeinsame Geschichte erzählen können, auch die der vierzig getrennten Jahre.

Davon sind wir noch meilenweit entfernt. Die Frage, was sich hinter dem Namen "Neues Forum" verbirgt, würde bei einer Abiturprüfung dieses Jahres wohl nicht nur im Westen als unzumutbar, weil zu schwer, empfunden.

Es ist deshalb durchaus auch als Beitrag zur Geschichtskunde zu verstehen, wenn die Deutsche Nationalstiftung dieses Jahr ihren Nationalpreis den Gründern des Neuen Forums verleiht.

Die Deutsche Nationalstiftung, die diesen Preis vergibt, ist 1993 von Helmut Schmidt, dem früheren Bundeskanzler, und einer Reihe seiner Freunde gegründet worden. Sie möchte ein Kulturverständnis fördern, zu dem Wissenschaft, Literatur und Kunst ebenso gehören wie Rechtsordnung, Politik und Wirtschaft. Sie möchte die Vereinigung der Deutschen fördern und ihre kulturelle Identität in Europa erlebbar machen. Sie möchte zu drängenden Fragen der Gegenwart und Zukunft Deutschlands Stellung nehmen.

Seit 1997 vergibt die Stiftung jährlich den Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung. Die bisherigen Preisträger sind: die Gesellschaft zur Förderung des Wiederaufbaus der Frauenkirche Dresden (1997), Wolf Biermann (1998) sowie Heinz Bethge, langjähriger Präsident der Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle, und Heinz Berggruen, Kunstsammler und Mäzen (1999).

Die Deutsche Nationalstiftung ehrt im zehnten Jahr der deutschen Einigung die Erstunterzeichner des Gründungsaufrufs für das Neue Forum, weil sie die wirkungsmächtigste Bürgerbewegung des Herbstes 1989 war. Als der offizielle Gründungskongress des Neuen Forums am 27./28. 1. 1990 stattfand, hatten sich längst andere oppositionelle Bewegungen gegründet, wie die Sozialdemokratische Partei (7. 10. 89), der Demokratische Aufbruch (29. 10. 89) und Demokratie jetzt. Das Besondere des Neuen Forums: Es entfaltete bereits vor seiner Gründung eine ungeahnte Wirksamkeit. Am 17. 10. 89 hatten bereits 20 000 den Gründungsaufruf unterschrieben. Über Kontaktadressen breitete sich eine informelle Struktur über das ganze Land aus und beförderte lokale Aktivitäten. Bei den ungezählten Demonstrationen und Veranstaltungen des Herbstes 1989 spielten immer auch Vertreter des Neuen Forums eine gewichtige Rolle, als Organisatoren, Redner und als diejenigen, die dem Grundsatz "keine Gewalt" Geltung verschafften.

Forum heißt Marktplatz. So verstand sich auch das Neue Forum: als ein Platz für den überfälligen öffentlichen Dialog über die gesellschaftliche Situation und Auswege aus der Krise. Es wollte ausdrücklich keine Partei sein, sondern eine Bürgerbewegung. Ein Programm sollte im Prozess der breiten Aussprache entstehen.

Was am Anfang die Stärke des Neuen Forums war: programmatische Offenheit, niedrige Verbindlichkeit der Mitgliedschaft und Offenheit auch für Mitglieder von Parteien, die SED eingeschlossen, wurde im Vorfeld der Volkskammerwahlen am 18. 3. 90 zum Nachteil. Das Neue Forum tat sich schwer, für seine Volkskammerkandidaten die Doppelmitgliedschaft auszuschließen, obwohl doch das das Verfahren war, nach dem sich die SED in der Alten Volkskammer die Mehrheit gesichert hatte: SED-Mitglieder in den Fraktionen des Gewerkschafts-, Frauen- und Kulturbundes.

Darüber gab es harte Auseinandersetzungen am Runden Tisch. Noch stärker schlug zu Buche, dass das Neue Forum mehrheitlich für eine Reform der DDR auf einem antikapitalistischen dritten Weg zu einem Zeitpunkt eintrat, als die Bevölkerung längst die deutsche Einheit forderte. Bei den Volkskammerwahlen bekam Bündnis 90 (Neues Forum, Demokratie Jetzt und Initiative für Frieden und Menschenrechte) lediglich 2,9 Prozent der abgegebenen Stimmen. Es ist mehr als verständlich, dass die Aktivisten des Herbstes 89 dieses Ergebnis als ungerecht und undankbar interpretierten.

Die Deutsche Nationalstiftung ehrt mit dem Nationalpreis die Zivilcourage der Erstunterzeichner des Gründungsaufrufs. Sie mussten damit rechnen, im Gefängnis oder im Lager zu verschwinden. Der unersetzliche Beitrag des Neuen Forums auf dem Weg der DDR zur Demokratie war die Ermutigung, das Wort öffentlich zu ergreifen.

Mit dem Nationalpreis ist ein Förderpreis verbunden. Er soll der Robert-Havemann-Gesellschaft die Erforschung der Geschichte des Gründungsaufrufes und seiner Folgen ermöglichen.

Die Preisverleihung findet am 26. Mai um 15 Uhr in der Gethsemanekirche statt, die seit 1987 durch Fürbittgottesdienste für aus politischen Gründen Verhaftete und 1989 im Zusammenhang mit den brutalen Polizeieinsätzen gegen Demonstranten zwischen dem 7. und dem 9. 10. 89 und danach als Treffpunkt oppositioneller Gruppen berühmt wurde.Der Theologe und Sozialdemokrat Richard Schröder, der Verfasser des vorstehenden Beitrages, wird morgen die Laudatio auf die Preisträger halten. Richard Schröder war der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende in der ersten und einzigen frei gewählten Volkskammer.

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