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Auf der Anklagebank: Das Urteil gegen den inhaftierten Ölkonzernchef Michail Chodorkowski (rechts mit einem Anwalt im Gericht im Mai 2011) war einem Gutachten für den Staatspräsidenten zufolge voller Fehler und beruht auf einem Justizirrtum. Foto: Denis Sinjakow/rtr

© REUTERS

Politik: Risse im System Putin

Sein Chefideologe musste gehen, und der Fall Chodorkowski könnte bedrohlich werden – Russland gerät in Bewegung.

Drei Bände und insgesamt 427 Seiten stark ist das Gutachten – und Sprengstoff pur für Russlands Regierung. Es geht darin um das zweite Verfahren gegen Ex-Jukos-Chef Michail Chodorkowski und dessen Juniorpartner Platon Lebedew; erstellt haben es unabhängige Experten aus dem In- und Ausland in mehrmonatiger Arbeit im Auftrag von Präsident Dmitri Medwedew. Ihr Fazit: Das Urteil gegen die beiden Ölmagnaten sei auf Grundlage eines Justizirrtums gefällt, kopiere in Teilen die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft und enthalte eine unzureichende Begründung. Außerdem habe es zahlreiche Verfahrensfehler gegeben.

Eben das hatten auch Chodorkowskis Anwälte und mehrere Bürgerrechtler kritisiert. Der Beirat für Menschenrechte beim Präsidenten Russlands, dessen Vorsitzender Michail Fedotow das Gutachten am Dienstag an Medwedew übergab, empfiehlt daher die Aufhebung der Urteile gegen Chodorkowski und Lebedew sowie eine Amnestie für Wirtschaftsvergehen.

Chodorkowski und Lebedew waren im Dezember 2010 wegen Diebstahl von Rohöl und Geldwäsche zu 13 Jahren Haft verurteilt worden. Das Strafmaß wird mit den jeweils acht Jahren verrechnet, die beide im ersten Prozess 2005 für Betrug und Steuerhinterziehung kassierten. Frühestens 2017 kommen sie frei – wenn bis dahin nicht ein drittes Verfahren gegen sie initiiert wird. Die Staatsanwaltschaft hatte dunkel damit gedroht. Anträge Chodorkowskis und Lebedews auf vorzeitige Entlassung wegen guter Führung schmetterten die Gerichte ab. Dies und die Urteile selbst erklären die Verteidigung und die demokratische Öffentlichkeit mit politischen Motiven: Chodorkowski hatte die Opposition unterstützt. Er werde, so glauben Aktivisten von „Memorial“, der ältesten und prominentesten Menschenrechtsgruppe in Russland, daher so lange im Lager sitzen wie Putin im Kreml.

Gleich mehrere Herausforderer Putins, der bei den Präsidentenwahlen im März für eine dritte Amtszeit kandidiert, hatten erklärt, im Falle eines Sieges würden die Freilassung Chodorkowskis und eine Amnestie für Wirtschaftsvergehen ihre ersten Amtshandlungen sein. In vielen dieser Verfahren ist die Beweislage ähnlich dürftig wie in der Causa Chodorkowski. Unabhängige Experten rügen vor allem, dass die Geschworenen unkritisch den Auslassungen der staatlichen Anklage folgen. So steht es auch in dem Chodorkowski-Gutachten. Der Beirat für Menschenrechte empfiehlt Medwedew daher ausdrücklich, die Rolle der Geschworenen zu überprüfen.

Der Beirat, bisher nie durch Renitenz aufgefallen, machte schon am Freitag – am Vorabend der jüngsten Proteste, zu denen allein in Moskau mehr als 100 000 Menschen kamen – Schlagzeilen, als auch er die Wiederholung der umstrittenen Parlamentswahlen vom 4. Dezember und den Rücktritt von Russlands oberstem Wahlleiter Wladimir Tschurow unterstützte. Putins Chefideologe Wladislaw Surkow wurde bereits degradiert. Er kümmert sich künftig als Vizepremier um wirtschaftliche Modernisierung. Als mächtiger Vizechef des Präsidentenamtes hatte er noch Pläne zur Behinderung der Opposition und zur Gründung kremlnaher Jugendbewegungen und Parteien – darunter auch der Putin-Partei „Einiges Russland“ ausgeheckt.

Seinen Fall werten die meisten Beobachter als Zeichen dafür, dass Putins straffe Machtvertikale erste Risse bekommt. Der selbst gibt nach wie vor den harten Hund. Er brauche keine Fälschungen und wolle sich bei den bevorstehenden Präsidentenwahlen auf eine „klare Willensäußerung des Volkes und auf dessen Vertrauen stützen“. Zuvor hatte er mit Blick auf die Massenproteste „gewissen Kräften, die weder ein einheitliches Programm noch ein klares Ziel und auch keine einheitliche Führung haben“ vorgeworfen, die Abstimmung zu „delegitimieren“. Dagegen, sagte er vor Aktivisten seines Wahlkampfstabs, werde man „sehr resolut“ vorgehen.

Parallel dazu setzt Putin offenbar auf Spaltung der Protestbewegung. So stimmte er plötzlich zu, Parteigründungen zu erleichtern. Kaum hatte Medwedew die frohe Botschaft verkündet, kündigten mehrere Oppositionsführer die Gründung neoliberaler Parteien an, die einander vernichtende Konkurrenz bereiten dürften. Darunter auch der Liebling der Proteste, der kritische Blogger Alexei Nawalny. Ihm wird am ehesten zugetraut, das Gezänk um Kleinigkeiten – die Erbsünde russischer Liberaler – zu beenden.

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