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Roter Halbmond: "Hilfsgelder sparsamer einsetzen"

Die Präsidentin des Roten Halbmonds über die Perspektiven ihres Landes.

In Afghanistan wird im August gewählt, Zeit, Bilanz zu ziehen. Hat sich Ihr Land seit 2001 verändert?

Jeden Tag verändert sich etwas. Es entstehen Schulen, Restaurants, und auch das Verhalten der Menschen ändert sich. Allerdings gibt es noch immer keine durchgreifenden Fortschritte beim Aufbau der Sozialsysteme, obwohl dafür Milliardenbeträge geflossen sind. Allein für Gesundheit sind hunderte Millionen Dollar ausgegeben worden. Dennoch gibt es in Afghanistan kein einziges Dialysegerät.

Auch die neue Verfassung, an der sie mitgearbeitet haben, ist umstritten. Gibt sie dem Islam zu großes Gewicht?

Ich bin selbst durchs Land gereist und habe die Leute gefragt, was sie von der Verfassung erwarten. Das ist das Ergebnis. Ich habe es akzeptiert. Wichtiger ist, dass der Inhalt in die Praxis umgesetzt wird. So sind Zwangsehen laut Verfassung verboten, doch die Regierung tut nichts, um dies durchzusetzen.

Ist der Wiederaufbau also gescheitert?

Nein, ganz und gar nicht. Wir mussten nach 24 Jahren Krieg bei null anfangen. Eine ganze Generation ist im Krieg aufgewachsen, mehrere Millionen Flüchtlinge sind zurückgekehrt, Millionen leben noch immer im Exil. Angesichts dieses Chaos sind wir insgesamt auf einem guten Weg. Es gibt jedoch einzelne Bereiche, die vernachlässigt werden. Der Rote Halbmond versucht, diese Lücken zu schließen. Wir kümmern uns um Waisen und geistig Behinderte, um alte Menschen ohne Familie und Witwen.

Was muss sich konkret ändern?

Es ist Zeit, eine Bestandaufnahme zu machen. Gemeinsam mit unseren ausländischen Partnern sollten wir analysieren, welche Defizite es gibt, wo Fehler gemacht wurden. Und wir müssen die Hilfsgelder sparsamer einsetzen.

Wo liegen die Ursachen für die Fehler? Ist Korruption das Hauptproblem oder die schlechte Koordination der Hilfsorganisationen?

Alle Seiten haben Fehler gemacht. Die Geber sollten genauer prüfen, wohin ihr Geld fließt – egal ob sie es an die Regierung zahlen oder an NGOs, die das meiste Geld bekommen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass viele NGOs nur auf dem Papier existieren. Andere leisten sich teure Wohnungen und Autos. Was die Regierung in Kabul angeht, so sollte sich nach der Wahl vor allem eines ändern: Die Ministerposten müssen mit Fachleuten besetzt und nicht nach politischen Kriterien vergeben werden.

Viele ländliche Regionen sind von der Entwicklung abgeschnitten. Was sind die größten Probleme dort?

Auf dem Land fehlen vor allem Arbeitsplätze, fehlt Industrie. Dabei gibt es so viele Dinge, die wir importieren: Uniformen etwa oder Wäsche für Krankenhäuser. Warum errichten wir nicht Fabriken in den Provinzen, die all dies produzieren? Natürlich ist Afghanistan eine Marktwirtschaft, doch wir sind eben auch ein sehr armes Land. Deshalb sollte der Staat stärker in die Wirtschaft eingreifen – und zwar dort, wo die Menschen Arbeit benötigen. Die Jungen brauchen eine Perspektive, damit sie sich nicht den Extremisten zuwenden.

Bisher ist der Einfluss der Zentralregierung in den Provinzen gering. Wird sich das jemals ändern in einem Land ohne nationale Tradition?

Wer sagt, dass wir keine nationale Tradition haben? Das empfinde ich als Beleidigung. Vor der Invasion der Sowjetunion 1979 hatten wir sehr wohl eine Zentralregierung, und die Afghanen lebten friedlich zusammen. Denken sie an die Hippies, die in den 70er Jahren zu uns gekommen sind. Einige von ihnen sind mit dem Fahrrad durch das Land gereist und wurden überall gastfreundlich aufgenommen.

Die Taliban tun alles, um einen Frieden in Afghanistan zu verhindern. Warum sind sie so stark?

Ein Dorf, in dem es Arbeit gibt, eine Klinik und gute Schulen, wird niemals dulden, dass dies wieder zerstört wird.

Ist Entwicklungshilfe also wichtiger als mehr ausländische Truppen?

Man kann das eine nicht gegen das andere aufrechnen. Beides hat seine Berechtigung.

Das Interview führte Ulrike Scheffer

Fatima Gailani (55) war Delegierte der

Friedenskonferenz in Bonn und gehörte der Verfassungskommission an. Seit fünf Jahren ist sie Präsidentin des Roten Halbmonds in Afghanistan.

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