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Viele Brasilianer demonstrierten in den vergangenen Tagen für die Amtsenthebung der Präsidentin.

© Roosevelt Cassio/REUTERS

Update

Rousseff-Absetzung: Brasiliens kaltgestellte Präsidentin spricht von "Putsch"

Die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff muss ihr Amt ruhen lassen. Der Senat stimmte für die Suspendierung der Staatschefin und die formelle Aufnahme eines Amtsenthebungsverfahrens.

22 Stunden wurde im Senat debattiert, dann hatte Brasilien einen neuen Präsidenten: Michel Temer, bisher Vizepräsident, hat am Donnerstag vorläufig die Regierungsgeschäfte übernommen und wenig später auch schon ein konservatives, wirtschaftsfreundliches Kabinett skizziert. Temer gehört der Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens (PMDB) an, der größten Partei des Landes. Er hat ein drastisches Sparprogramm angekündigt: Privatisierungen staatlicher Firmen, Einschnitte in Gesundheit und Bildung, Aufweichung von Arbeitnehmerrechten.

Am frühen Morgen entschied der Senat, Präsidentin Dilma Rousseff vorläufig aus dem Amt zu entfernen. Eine einfache Mehrheit von 55 Senatoren sprach sich für die Fortführung des Amtsenthebungsverfahrens aus, 22 stimmten dagegen. Ihr Versuch, das Amtsenthebungsverfahren in letzter Minute stoppen zu lassen, war am Mittwoch vom Obersten Gericht des Landes zurückgewiesen worden.

Rousseff soll Haushaltszahlen Brasiliens geschönt haben

Nun haben die Senatoren sechs Monate Zeit, um sich ein endgültiges Urteil darüber zu bilden, ob Rousseff tatsächlich ihren Amtseid gebrochen hat. Der Vorwurf lautet, dass sie die Bundesbanken anwies, Sozialhilfe auszuzahlen, ohne ihnen das Geld aus dem Haushalt überweisen zu können. So schönte Rousseff die Bilanz ihrer Regierung. Unter Juristen ist umstritten, ob dieser Fiskaltrick ein „Verbrechen gegen die Verantwortung“ als Präsidentin darstellt. Dafür sähe die Verfassung eine Amtsenthebung vor. Das müsste in der entscheidenden Abstimmung eine Zweidrittelmehrheit der 81 Senatoren entscheiden.

Die Diskussion im Senat war abwägend und dennoch leidenschaftlich. Jeder Senator hatte 15 Minuten Zeit, seine Haltung darzulegen. Vielen schien bewusst zu sein, dass Brasilien an einem Scheideweg steht. Im besten Fall könnte das Land sein korruptes und dysfunktionales politisches System reformieren. Im schlechtesten Fall wird nichts passieren.

Schaut man sich das Personal an, das Interimspräsident Temer berufen hat, scheint Letzteres wahrscheinlich. Temer, gegen den es Korruptionsvorwürfe gibt, sucht die Unterstützung der alten Eliten: Großgrundbesitzer, evangelikale Christen, Hardliner in Sicherheitsfragen. Als Minister vorgestellt hat er bisher ausschließlich weiße Männer. Der Eindruck entsteht, dass es ihm und seinen Verbündeten der konservativen PSDB vor allem darum geht, endlich an die Macht zu kommen. Bundesanwalt José Eduardo Cardoso, der Rousseff bis zuletzt verteidigte, bezeichnete Brasilien nach dem Votum als „größte Bananenrepublik der Welt“.

Die abgesetzte Präsidentin spricht von einem gewaltsamen Staatsstreich

Rousseff selbst sagte direkt vor dem Verlassen des Präsidentenpalastes Planalto, ihrer vorläufigen Amtsenthebung liege kein Vergehen ihrerseits zugrunde, es handele sich daher um einen Staatsstreich: „Auf dem Spiel steht weniger mein Mandat, auf dem Spiel steht die Anerkennung der Wahlurnen, des souveränen Willens des brasilianischen Volkes und die Verfassung.“ Diejenigen, die bei den Wahlen gescheitert seien, seien nun „gewaltsam“ an die Macht gekommen. „An die Brasilianer, die sich dem Putsch widersetzen, egal welcher Partei, richte ich einen Appell: Bleiben Sie mobilisiert, geeint und friedlich“, sagte die Linkspolitikerin, die während der brasilianischen Militärdiktatur im Widerstand gekämpft hatte.

Seit der mit drei Millionen Stimmen Mehrheit gewonnenen Wahl im Oktober 2014 stand die Präsidentin massiv in der Kritik. Die zuvor siegessichere Oppositionspartei PSDB säte Gerüchte über Wahlbetrug. Der mächtige Medienkonzern Globo machte in Fernsehen, Radio und Presse Stimmung. In der weißen Mittel- und Oberschicht entstand regelrechter Hass auf Rousseff und ihre angeblich „kommunistische“ Arbeiterpartei. Millionen Angehörige dieser Schichten protestierten auf der Straße, vor allem im europäisch geprägten Südbrasilien.

Aber rund ein Drittel der Bevölkerung, vor allem im armen und dunkelhäutigen Nordosten, unterstützt weiterhin die Präsidentin. Während zahlreiche Senatoren der Korruption verdächtig sind, ging es im Verfahren gegen Rousseff darum nie. Auch deshalb nennen sie und ihre Verbündeten das Verfahren einen „Putsch“.

Brasilien mit seinen gut 200 Millionen Einwohnern steckt in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten, die von falschen Entscheidungen Rousseffs vertieft wurde. Mit ihrer Absetzung wird nun die Hoffnung verbunden, dass sich die Lage bessert. Die Börsen reagierten am Donnerstag mit Kurssprüngen. (mit AFP)

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