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Kigali Genocide Memorial: Äußerlich erinnert in den Straßen der Hauptstadt kaum noch etwas an den Völkermord vor zwanzig Jahren.

© dpa

Ruanda-Tagebuch (1): Das kollektive Vergessen in Ruanda

20 Jahre nach dem Völkermord herrscht in Ruandas Hauptstadt Kigali eine schweizerische Sauberkeit - eine Art Gegenzauber zu Alpträumen, Erinnerungen und allgegenwärtiger Angst. Dagmar Dehmer berichtet eine Woche lang aus dem zentralafrikanischen Land.

Es gibt einen Satz, den sagt jeder, der in den vergangenen zehn Jahren einmal in Ruanda war: „Es ist sauber, geordnet und sehr schön.“ Ruanda ist anders als seine Nachbarländer, Kongo,  Uganda oder Kenia. Aber Deutschland, Frankreich und Polen sind ja auch nicht gleich. Es sollte eigentlich keine Überraschung sein, dass auch in Afrika jedes Land anders aussieht, selbst wenn es in der gleichen Klimazone liegt, die Vegetation und die Tierarten ähnlich sind, und es kulturelle Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Völkern gibt. Und trotzdem ertappe ich mich dabei, mir die Frage zu stellen: Ist das eigentlich noch Afrika?

Es fühlt sich irgendwie an wie Zürich

Afrika setzt sofort Bilder frei. Entweder es sind die Tiere, hier in Ruanda die Gorillas, in Kenia die großen Fünf – Büffel, Nashorn, Elefant, Löwe und Leopard – und die Strände bei Mombasa, oder es ist das chaotische Gewusel der Märkte, durch die sich Menschen in bunten Kleidern drängeln, die laut und lustig sind und manchmal auch etwas aggressiv. Und Scharen von Kindern, die durch die Straßen rennen und „Muzungu“ rufen, ein Suaheli-Wort für Weiße, das wörtlich übersetzt „Verirrte“ bedeutet. Oder es sind die Bilder der Armut, ärmliche Hütten windschief am Hügel mit halb verhungerten Kindern davor. Aber das Afrika der großen Städte mit aufstrebenden Mittelschichten, die oft genug nicht großartig anders aussehen als mitteleuropäische Großstädte, ist in unserem Afrikabild so wenig vorgesehen wie eine Hauptstadt, die am Äquator liegt und sich irgendwie anfühlt wie Zürich.

So sieht Kigali auf den ersten Blick aus. Die Straßen sind nicht nur aufgeräumt – es liegt hier kein Müll herum. Sie sind sogar gefegt. Die Vorgärten der kleinen Häuser der Ärmeren neben den Villen auf dem „Präsidentenhügel“ sind gepflegt wie in einer x-beliebigen deutschen Vorstadt. Am Sonntagmorgen, bevor sich die Menschen in ihren besten Kleidern in die Kirche aufmachen, wird gewischt, geschrubbt und Unkraut gejätet, damit alles picobello aussieht. Und das tut es dann auch. Hier gilt eine Helmpflicht für Motorradfahrer, die befolgt wird. Die Motorradtaxis haben noch einen zweiten Helm dabei für ihre Passagiere, und tragen eine Signalweste, die sie als Taxis ausweist. Autos bleiben an den Ampeln stehen, und die Ampeln zählen die Sekunden rückwärts, die es dauern wird, bis sie von Rot auf Grün springen.

Gepflegter Vorgarten eines Wohnhauses in Kigali.
Gepflegter Vorgarten eines Wohnhauses in Kigali.

© Dagmar Dehmer

Der Autoverkehr verläuft diszipliniert, nicht allzu schnell, und es ist zumindest am Sonntag so wenig Verkehr, dass es kein Problem ist, durch die Hauptstadt zu kommen. Abends sind die Straßen leer gefegt. Fast niemand läuft durch die Nacht. Zumindest sonntags gibt es selten Stromausfälle, obwohl Ruanda wie alle seine Nachbarländer viel mehr Strom bräuchte, als es aktuell produzieren kann. Und sonntags zumindest rennen auch keine Kinder durch die Straßen. In Kigali wird sonntags auch nicht allzu viel gelacht. Vielleicht ist das unter der Woche anders. Vielleicht sieht der Alltag ganz anders aus. Aber der erste Tag in  Ruanda ist etwas gespenstisch.

Äußerlich erinnert nichts an den Genozid

Nach dem Besuch der Genozid-Gedenkstätte ist auch klar, warum Kigali wirkt, als läge eine dichte Schicht Trauer über der Stadt – weil es so ist. Der Genozid radikaler Hutus an den Tutsis und den Hutus, die sich dem Töten verweigerten, ist knapp 20 Jahre her. Die apokalyptischen Zustände nach drei Monaten Massentötungen, als „überall in den Straßen Leichen lagen, es stank überall nach Verwesung, die Leute hatten aufgegeben“, sind inzwischen so gründlich aufgeräumt, dass zumindest äußerlich nichts mehr daran erinnern soll. Aber jeder der 10,8 Millionen Ruander hat entweder Familie im Genozid verloren, oder hat einen oder mehrere Täter in der Familie.

Massengrab in Kigali
Der Betonquader ist eines der Massengräber, sie sind sechs Meter tief, darüber stapeln sich Särge, gefüllt mit den Gebeinen von Opfern des Genozids. Insgesamt lliegen 250 000 Menschen dort begraben, deren Gebeine von ihren Angehörigen in Kigali gebracht worden sind. Auch Gebeine, die bei den allgegenwärtigen Bauarbeiten in der Stadt gefunden werden, werden hier beigesetzt.

© Dagmar Dehmer

Freddy Mutanguha, der Leiter der Gedenkstätte, berichtet, dass die Angst noch immer da ist. Die Angst der Opfer, dass die Täter von damals, die oft genug wieder ihre Nachbarn sind, auf die Idee kommen könnten, sie hätten ihre Arbeit 1994 noch nicht vollständig erledigt. Und die Angst derjenigen Täter, die nicht verurteilt worden sind, dass doch noch irgendein Zeuge auftauchen könnte, der sie der Justiz ausliefert. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, und Ruanda hat sich auf den Weg gemacht, seine Wirtschaft aufzubauen, modern zu werden, alles vergessen zu machen. So wie Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren, als es den Nationalsozialismus kollektiv vergessen und vergessen machen wollte. Aber 20 Jahre sind auch eine sehr kurze Zeit, wenn es darum geht, einen Völkermord zu verarbeiten. Die schweizerische Sauberkeit in Kigali ist auch eine Art Gegenzauber gegen die Alpträume, die Erinnerungen und die allgegenwärtige Angst in Ruanda. In diesem Gedenkjahr 20 Jahre nach der ruandischen Apokalypse bricht die Vergangenheit ständig in die Gegenwart ein. Und das wird auch noch lange so bleiben.

Dagmar Dehmer hält sich auf Einladung der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) eine Woche lang in dem zentralafrikanischen Land Ruanda auf. Hier berichtet sie von ihren Eindrücken 20 Jahre nach dem Völkermord.

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