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Russische Truppen in der Ukraine: Eskaliert nun die Lage im Ukraine-Konflikt?

Russische Soldaten sollen am Vorrücken der Separatisten in der Ostukraine beteiligt sein. Wie reagiert die ukrainische Führung auf die Zuspitzung der Lage? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Präsident, Regierungschef und Parlament in Kiew sind sich einig: Russland hat die Ukraine in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag überfallen. Am Donnerstagmorgen gaben Präsident Petro Poroschenko, Ministerpräsident Arseni Jazenjuk und die Chefin der größten Partei, die frühere Regierungschefin Julia Timoschenko, nahezu gleichzeitig Stellungnahmen ab, die zur Verhängung des Kriegsrechtes führen könnten.

Was ist passiert?

Zwei Bataillone der Separatisten hatten am Mittwochabend den Hafen Nowoasowsk im Asowschen Meer – einem Randgewässer des Schwarzen Meeres –, die Stadt selbst und umliegende Dörfer besetzt. Die Stadt liegt etwa 100 Kilometer von den Gebieten in der Ostukraine entfernt, die von den Separatisten kontrolliert werden. Diese bereiten nach eigener Darstellung eine Offensive zum Sturm der rund 40 Kilometer entfernten Hafenstadt Mariupol vor. Dorthin hat die Donezker Regionalverwaltung Ende Mai ihren Sitz verlegt, von dort, so die Befürchtung der Ukrainer, wollen die Russen einen Landkorridor zur Krim und zu der prorussischen Separatisten-Region Transnistrien in Moldawien schlagen. Das hatten kritische Beobachter in Russland schon auf dem Höhepunkt der Krimkrise gemutmaßt. Beide haben keine Landgrenzen mit Russland. Auch könnte die Nato, falls Kiew der Allianz beitritt, ihre Schiffe dann nicht in ukrainischen Häfen stationieren. „Damit wäre der Worst Case eingetreten“, sagte der ukrainische Regierungsberater Anton Geraschtschenko.

Einer der Kommandeure des Freiwilligen Bataillons Asow, Igor Mosijtschuk, berichtete der Onlineausgabe der Tageszeitung Segodna: „Die Einheimischen sind am Rande der Panik, nachdem klar wurde, wer in Nowoasowsk ab jetzt das Sagen hat.“ Die Russen würden die Flucht der Zivilisten verhindern, gewaltsam Fahrzeuge stoppen, die sich Richtung Mariupol aufmachen wollten. Mosijtschuk sagte, die ukrainische Armee könnte Mariupol nur halten, wenn sofort Truppenverstärkung in die Region geschickt werde.

Welche Erkenntnisse gibt es über eine Beteiligung russischer Soldaten?

Alexander Sachartschenko, einer der Führer der sogenannten „Donezker Volksrepublik“, sagte dem russischen Staatsfernsehen, aufseiten der Separatisten kämpften nicht nur Freiwillige aus Russland, sondern auch Berufssoldaten. Einige hätten eigens dazu Urlaub bekommen. Ohne deren Unterstützung würden die Milizen mit der regulären ukrainischen Armee nicht fertig werden, sagte Sachartschenko.

Derweil berichten Blogger aus mehreren Regionen Russlands in sozialen Medien von Dutzenden verwundeter, vermisster und toter Soldaten, die Opfer von Kämpfen in der Ukraine wurden. Ihre Familien verlangen Aufklärung von den Vorgesetzten. Wie eine Soldatenmutter am Donnerstag bei Radio Echo Moskwy sagte, habe auch der Stab der im zentralrussischen Kostroma stationierten Fallschirmjägerdivision inzwischen eingestanden, dass es bei den Kämpfen in der Ukraine Verluste gab.

Wie ist die offizielle russische Haltung dazu?

Das russische Verteidigungsministerium dementiert nach wie vor, dass russische Truppen in die Ukraine einmarschiert seien. Auch Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE, die in der russischen Region Rostow am Don direkt an der Grenze stationiert sind, haben keine Bewegungen russischer Truppen oder gar Anzeichen für eine Intervention registriert. Nur die Grenzschützer selbst, so OSZE-Missionschef Paul Picard, seien bewaffnet, aber das sei durch die Dienstvorschrift gedeckt. Der Pressesprecher von Kremlchef Putin sagte indes nur, alle Informationen zu Verwundeten, Gefallenen oder Vermissten in der Ukraine müssten „sorgfältig geprüft“ werden.

Russlands Außenminister Sergej Lawrow hatte am Mittwoch bei einem Besuch im Sommerlager der kremltreuen Jugend am Seliger-See erneut versichert, Russland sei nicht an einem Zerfall der Ukraine interessiert. Und das Verteidigungsministerium in Moskau bestätigte bisher nur die Festnahme von zehn russischen Fallschirmjägern, die sich an der Grenze angeblich auf ukrainisches Gebiet „verirrt“ hätten. Sie werden derzeit in Kiew vernommen und müssen dort auch mit der peinlichen Frage rechnen, wie man sich beim Streifengang – zumal im digitalen Zeitalter – gleich fünfzehn Kilometer weit auf „gegnerisches Gebiet“ verlaufen kann. Die festgenommenen Fallschirmjäger werden von den ukrainischen Behörden aber nicht als Kriegsgefangene geführt.

Wie reagiert die ukrainische Führung auf die Zuspitzung der Lage?

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko war quasi schon auf dem Weg zu einem Staatsbesuch in die Türkei. Am Rollfeld des Kiewer Flughafens teilte er mit ernster Miene mit, er werde seine Gespräche in Ankara absagen und eine Sondersitzung des Nationalen Sicherheitsrates einberufen. Das Staatsoberhaupt sprach von einer „Invasion durch Truppen aus Russland“. Zur selben Zeit forderte Ministerpräsident Arseni Jazenjuk eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates in New York. Seine Parteifreundin, die frühere Regierungschefin Julia Timoschenko, trat nur wenige Kilometer weiter entfernt vor die Medien. Sie verkündete in einer knapp dreiminütigen Rede, das Land sei von Russland überfallen worden, die Ukrainer würden sich nun verteidigen, der Präsident solle das Kriegsrecht ausrufen.

Poroschenko hatte sich bisher gegen die Verhängung des Kriegsrechts ausgesprochen. Doch am Donnerstag prüfte der Nationale Sicherheitsrat nach Angaben des Regierungsberaters Geraschtschenko in einer Sondersitzung, ob in den Regionen Donezk und Luhansk das Kriegsrecht ausgerufen werden solle. Eine Entscheidung traf das Gremium nicht. Der Parlamentarier Anatoli Kinach, der dem Sicherheitsrat angehört, sagte jedoch, er schließe nicht aus, dass so ein Schritt erfolgen könnte, sollte sich die Lage weiter verschärfen. Unterdessen bestätigten das Verteidigungsministerium und der Sicherheitsrat den „De-facto-Einmarsch russischer Truppen“.

Die eskalierende Lage in der Ostukraine verschärfte in Kiew die politischen Kontroversen. Hinter verschlossenen Türen sollen der Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Minsker Gespräche zwischen Poroschenko und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin von einigen Politikern als „Zumutung“ empfunden worden sein.

Auch das Lavieren um die fast 300 russischen Lkw, die Moskau als Hilfskonvoi in die Ostukraine geschickt hatte, habe Putin in die Hände gespielt. Die OSZE gab am Donnerstag bekannt, lediglich 37 der insgesamt 227 Fahrzeuge, die die ukrainische Grenze überquert haben, seien kontrolliert worden. Die ukrainische Regierung hatte sich fast zwei Wochen lang gewehrt und war strikt gegen die Einreise der, wie Präsidentenberater Valeri Tschaly sagte, „weiß lackierten Militärfahrzeuge der Armee der Russischen Föderation“, die „eine Invasion vorbereiten“ würde.

Die EU-Delegation in der Ukraine kommentierte die Lage im Land zunächst widersprüchlich. Der EU-Presseattaché David Stulik sprach auf der offiziellen Facebook-Seite des EU-Botschafters offen von „einer russischen Invasion“, die derzeit in der Ukraine zu beobachten sei, und warnte, nach dem Überfall auf die Krim und die Ostukraine müsse sich nun auch der Westen auf Ähnliches aus Moskau einstellen. Der Eintrag war gerade gepostet, schon schickte die EU-Delegation eine Klarstellung. Bei diesem Eintrag handle es sich um die „persönliche Meinung Stuliks“, schreibt EU-Botschafter Jan Tombinski.

Wie die USA mit der Eskalation in der Ukraine umgehen

Die US-Regierung ist im Besitz von Bildern, die angeblich den Transport russischen Kriegsgeräts in die Ukraine zeigen. Auf anderen Bildern soll aufgebaute russische Artillerie in der Ukraine zu sehen sein. In diese nicht veröffentlichten Bilder durften unter anderem die „New York Times“, aber auch führende Fernsehsender Einblick nehmen. Geheimdienstvertreter liefern Informationen über russische Spezialisten, die den Separatisten in der Ostukraine zur Seite stünden, um das russische Kriegsgerät zu nutzen. Doch auch nach den Berichten über eine russische Truppenbewegung über die Grenze spricht das Außenministerium noch immer nicht offen von einer Invasion. Denn das hieße, eine dramatische Eskalation der Situation einzugestehen und zum Handeln gezwungen zu sein. Allerdings ringt die US-Regierung mit der Frage, was jenseits der bisherigen Sanktionen überhaupt möglich ist.

Die Sprecherin des Außenministeriums, Jen Psaki, nennt den russischen Vorstoß „incursion“, was sich mit „Einbruch“, „Einfall“ oder auch „feindlichem Einfall“ übersetzen lässt. Die Erkenntnisse über weitere Panzer und Raketenstellungen russischer Herkunft, die in die südöstlichen Gebiete der Ukraine verstoßen, deuteten auf „eine wahrscheinliche russisch-gesteuerte Gegenoffensive“ hin, sagte Psaki. Was die US-Regierung „natürlich sehr besorgt“ stimme. Sie beharrt aber auch auf Nachfrage auf dem Wort „wahrscheinlich“. Zudem sei man besorgt angesichts „des Unwillens der russischen Regierung, die Wahrheit zu sagen“, obwohl russische Soldaten 30 Meilen innerhalb der Ukraine entdeckt worden seien. „Russland sendet seine jungen Männer in die Ukraine, aber sagt ihnen nicht, wohin sie gehen.“ Die US-Regierung verweist auch auf Geheimdienstberichte über verletzte russische Soldaten in einem Krankenhaus in St. Petersburg und zurücktransportierte tote russische Soldaten.

Andere sind deutlicher. Das Wort „Invasion“ ist auf allen US-TV-Kanälen zu sehen. Die Republikaner werfen US-Präsident Barack Obama seit langem vor, zu weich gegen Russland vorzugehen. Sie fordern umfangreiche Waffenlieferungen für die ukrainische Armee.

Auch an einer anderen Front vermuten die USA einen russischen „Einfall“. Das FBI und der Secret Service untersuchen im Moment einen Computerangriff auf die Rechner der Großbank JPMorgan und fünf weitere Geldinstitute. Hacker sollen dabei große Mengen an Daten abgezogen haben. Die Spuren, heißt es, deuten nach Moskau.

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