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Harald Martenstein

© Britta Pedersen/dpa

Russland, der Sieg und unsere Rituale: "Ich bin froh, dass nicht die Sowjetunion der alleinige Sieger war"

Die Sowjetunion hat uns befreit, sie hat Hitler besiegt. Dafür gebührt ihr ewiger Dank. Dass Deutschland heute ein freies Land ist, verdanken wir aber vor allem der Tatsache, dass die USA den Kalten Krieg gewonnen haben und nicht die Sowjetunion. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Harald Martenstein

Über Hitler ist alles gesagt. Sein Bruder im Geiste, Stalin, kommt erstaunlich gut weg. Stalin hat, je nach Schätzung, zwischen neun und 22 Millionen Menschen umbringen lassen, die meisten waren Sowjetbürger. Sie haben nicht mal einen eigenen Gedenktag. Am 23. August wird in Europa, schön ausgewogen und eher unauffällig, der Opfer des Stalinismus und des Nationalsozialismus gedacht.

Gerade erst ist in Russland, in der Stadt Lipezk, eine neue Stalin-Büste eingeweiht worden. Das musst du als Massenmörder erst einmal schaffen. Du bringst Millionen um, und noch Jahrzehnte später werden dir Denkmäler errichtet. Da sieht man, was ein gewonnener Krieg ausmacht. Wenn du als Massenmörder deine Kriege gewinnst, ist alles okay.

Der britische Autor Robert Harris hat mit „Vaterland“ einen Roman geschrieben, der auf der Idee basiert, dass die Nazis den Krieg gewonnen haben. Es gibt bei Harris zwei Supermächte, Deutschland und die USA. Die Ermordung der Juden ist von den Nazis erfolgreich vertuscht worden. Keiner redet mehr darüber. Diese Vision ist realistisch. Stalin hat die bäuerliche Mittelschicht ausgerottet, 600000 Ermordete. Um die Kollektivierung durchzusetzen, haben die Kommunisten 14,5 Millionen Menschen gezielt verhungern lassen. Die Kinder starben als Erste. 3,5 Millionen Ukrainer sind elend verreckt. Zu diesem Völkermord hat sich keine Gedenkkultur entwickelt.

Wir haben die Sprachregelungen der DDR übernommen

Ich bin dankbar dafür, dass Hitler den Krieg verloren hat und ich nicht in einem Naziland leben muss. Aber ich bin auch dankbar dafür, dass nicht die Sowjetunion der alleinige Sieger des Krieges gewesen ist. Mit Stalin als alleinigem Sieger wäre ganz Europa in ein Straflager verwandelt worden. Die Rote Armee hat den Überlebenden der Konzentrationslager die Freiheit gebracht, danach wurden die Lager mit neuen Insassen gefüllt, von denen viele unschuldig waren und viele starben. Hitlers Ende war eine Befreiung. Danach begann, im sowjetisch besetzten Teil Europas, der Aufbau eines neuen Unterdrückungssystems.

Unsere Gedenkrituale zum 8. Mai, dem Tag des Kriegsendes, sind seltsam. Wir haben die Sprachregelungen der DDR übernommen, die ihrerseits auf Stalin zurückgehen. Die Sowjetunion hat uns befreit, sie hat Hitler besiegt. Dafür gebührt ihr ewiger Dank. Historiker sagen, dass die durch Stalins Mordorgien geschwächte Rote Armee den Krieg ab 1942 nur mit Hilfe von Material aus den USA erfolgreich führen konnte. Dass Deutschland heute ein freies Land ist, verdanken wir vor allem der Tatsache, dass die USA den Kalten Krieg gewonnen haben und nicht die Sowjetunion. Wenn es umgekehrt gelaufen wäre, gäbe es in Berlin heute immer noch Militärparaden, Fahnenappelle und einen Führer, dem niemand ohne Gefahr widerspricht.

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