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Politik: Russlands Wende - wohin? (Leitartikel)

Grosny hat die Wahl entschieden. Der Krieg, laut Heraklit der Vater aller Dinge, hat die Moskauer Politik umgekrempelt.

Grosny hat die Wahl entschieden. Der Krieg, laut Heraklit der Vater aller Dinge, hat die Moskauer Politik umgekrempelt. So paradox es klingen mag: Auf den ersten Blick scheint es sogar, als habe er Russland ein tüchtiges Stück vorangebracht auf dem Weg zu mehr demokratischer Stabilität. Erstmals seit Auflösung der Sowjetunion 1991 kann sich die Regierung auf ein mächtiges Lager in der Duma stützen, vielleicht sogar eine Mehrheitskoalition schmieden. Kein Radikalen-Schock verdunkelt diesmal das Bild, wie 1993 der Überraschungserfolg des Chauvinisten Schirinowskij und 1995 der Durchmarsch der Kommunisten. Die KP bleibt zwar stärkste Fraktion, aber nie zuvor war das Zentrum so stark. Im Ausland verurteilt man das Vorgehen gegen Tschetschenien - und muss sich doch eingestehen, dass dieser Feldzug die neue Mitte im Parlament hervorgebracht hat, auf die der Westen seit Jahren hofft.

Diese Wende fällt zusammen mit einem Generationswechsel: Nach den Jelzins, Tschernomyrdins und Primakows, die im Sowjetsystem groß geworden waren, sind Jüngere zwischen Dreißig und Mitte Vierzig ins Zentrum der Macht getreten, die stärker durch die acht Jahre seit der Auflösung der UdSSR geprägt sind und durch die Experimente mit Demokratie und Marktwirtschaft: Regierungschef Wladimir Putin, sein Feuerwehrmann Sergej Schoigu oder Ex-Premier Sergej Kirijenko.

Und doch ist dieser Wahlausgang noch keine Garantie für eine neue politische Kultur. Diese dritte Duma-Wahl war demokratisch, zumindest am Wahltag selbst. Im Wahlkampf gab es hingegen keine Chancengleichheit. Die Erfolgsaussichten hingen vom Zugang zu den landesweit empfangbaren TV-Kanälen ab. Die aber unterliegen im wesentlichen dem Zugriff der Regierung Putin - der Schlüssel zum Überraschungserfolg der Kreml-Partei "Einheit" und ihrer Verbündeten. Und was verrät das eigentlich über die Stabilität des Parteienspektrums und die politischen Bindungen der Wähler, wenn eine Partei, die vor drei Monaten noch gar nicht existierte, aus dem Stand zweitstärkste Kraft wird? Russland ist ein "Wer?"-Land, kein "Was?"-Land. Man orientiert sich an Personen, nicht an alternativen politischen Zielen. Weder haben sich bisher parteipolitische Präferenzen der Wähler festigen können, noch lassen sich die Lager nach ausgearbeiteten Programmen, etwa in der Wirtschaftspolitik, unterscheiden. Deshalb kann ein Wladimir Putin, der noch im Sommer für das Ausland wie für die meisten Russen ein Unbekannter war, dieser Wahl seinen Stempel aufdrücken. Putin ist der Sieger, der neue Superstar, der nun beste Aussichten hat, auch die Präsidentenwahl im Sommer zu gewinnen.

Doch was fängt er jetzt an mit der gefestigten Macht? Wird er zu dem berechenbaren, reformorientierten und kooperationswilligen Partner, den der Westen sucht? Wird er den Krieg, nachdem der seine Schuldigkeit für die Dumawahl getan hat, beenden und weiß er überhaupt, wie? Oder erliegt er der Versuchung, sein Erfolgsrezept in die Präsidentenwahl hinüberzuretten? Dazu bräuchte er noch über Monate martialische Bilder, die seine Handlungsfähigkeit belegen und seine Entschlossenheit, den angeblichen Terrorismus auszurotten. Das ist die bittere Seite dieser politischen Wende: Zwar verlieren die extremen Kräfte rechts und links, die der Westen stets verhindern wollte, an Einfluss. Aber die neue Mitte hat viele Parolen dieser Extremen übernommen und führt, zum Beispiel, den Tschetschenienkrieg in so menschenverachtender Weise, dass es schwer fällt, von einem kleineren Übel gegenüber Kommunisten und Nationalradikalen zu sprechen. Russland ist politisch stabiler geworden, aber es zahlt einen hohen Preis dafür.

So bleibt zunächst offen, ob das Wahlergebnis als Fortschritt oder als Enttäuschung zu betrachten ist. Die veränderte Lage und die junge Garde bieten neue Ansätze für eine konstruktive Russlandpolitik, für Reformen, die das Ausland unterstützen kann. Aber möglich ist ebenso, dass Moskau im Gefühl wiedergewonnener Stärke auftrumpft, sich der Kooperation verschließt. Das Schicksal Tschetscheniens in den nächsten Wochen wird ein erster Gradmesser sein.

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