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Sahra Wagenknecht im Interview: "Die EU ist ein Hebel zur Zerstörung der Demokratie"

Sahra Wagenknecht, stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, spricht im Interview mit dem Tagesspiegel über falsche Europapolitik, olle Kamellen - und Papst Franziskus.

Von
  • Matthias Meisner
  • Lutz Haverkamp

Frau Wagenknecht, empfinden Sie Nationalstolz?

Ich finde nicht, dass die Nation etwas ist, worauf man stolz sein kann. Man wird in einem Land geboren, man wächst da auf. Das ist keine eigene Leistung. Ich finde es wichtig, dass wir im Rahmen der Nationalstaaten Demokratie haben, dass nationale Parlamente Souveränitätsrechte haben, die nicht nivelliert werden dürfen. Aber Nationalstolz, das wäre gerade auch angesichts der deutschen Geschichte ziemlich daneben.

Sind Sie denn glücklich, in Deutschland zu leben?

Ich bin glücklich in meinem privaten Leben. Ein Land kann nicht glücklich machen. Natürlich kann man sagen, dass es den Menschen in Deutschland besser geht als zum Beispiel in Südeuropa mit Wirtschaftskrise und extremer Jugendarbeitslosigkeit. Trotzdem ist der Satz „Deutschland geht es gut“ eine Phrase. Auch hier geht es vielen Menschen nicht gut, sie müssen sich einschränken, kommen trotz harter Arbeit nie auf einen grünen Zweig. Das könnte anders sein, wenn wir eine gerechtere Verteilung hätten.

Sie haben im Dezember die Kanzlerin für die steigende Zahl von Suiziden in Griechenland mitverantwortlich gemacht. Ist das nicht purer Populismus?

Nein, das ist die Benennung von Zusammenhängen. Es war gerade die Bundesregierung, die darauf gedrängt hat, all die brachialen Sparprogramme durchzuziehen, die die soziale Existenz vieler Menschen zerstört haben. Die Selbstmordrate in Griechenland hat sich infolge dieser Politik dramatisch erhöht, immer mehr Menschen sind schlicht verzweifelt, weil sie nicht mehr wissen, wie es für sie weitergeht. In Griechenland ist nicht nur die Arbeitslosigkeit sehr hoch, man bekommt nach einem Jahr Arbeitslosigkeit auch keinen müden Euro mehr. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei mehr als 60 Prozent. In dieser Situation weiter auf soziale Kürzungen und Entlassungen zu drängen, ist eine verantwortungslose Politik, für die sich Frau Merkel mitschuldig macht. Gleichzeitig wird die griechische Oberschicht in keiner Weise zur Kasse gebeten. Dort sitzen aber die Verantwortlichen für die griechischen Schulden. Das waren nicht die kleinen Leute, die Taxifahrer, Lehrer, Krankenschwestern.

Ist nicht die griechische Politik zuallererst für die Schulden und damit für die aktuelle Situation verantwortlich?

Die griechische Politik ist natürlich mitverantwortlich. Ein Großteil der griechischen Schulden ist hausgemacht, von der Oberschicht, den alten Parteien, einem korrupten System. Umso befremdlicher war es, dass sich die deutsche Politik vor den letzten Wahlen massiv dafür eingesetzt hat, dass genau diese Parteien, die Teil des korrupten Systems waren, wieder gewählt werden. Die Linkspartei Syriza hätte dem Land sicher besser getan.

Und die Troika?

Griechenland ist seit 2010 kein souveränes Land mehr, sondern steht unter ihrem Diktat. Eine Folge ist, dass Athen die Ausgaben für Gesundheit um fast die Hälfte gekürzt hat. In Griechenland sterben heute Menschen, weil sie sich notwendige Medikamente nicht mehr leisten können. Aber Deutschland hätte sich dafür einsetzen können, dass die Troika eine andere Politik macht: Belastung der Reichen, kein Verschieben von Vermögen mehr in die Schweiz, eine drastische Vermögensabgabe für die oberen Zehntausend.

Die Europäische Union ist neoliberal, militaristisch und weitgehend undemokratisch. So steht es im Entwurf zum Europawahlprogramm der Linken. Alles richtig?

Dass die EU eine neoliberale Politik im Interesse großer Konzerne und Banken macht, ist spätestens seit den Maastrichter Verträgen offensichtlich. Wir haben einen ständigen Druck in Richtung Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung. Bis heute. Man muss die EU nicht mit dem Begriff militaristisch verbinden, aber richtig ist auf jeden Fall, dass die EU immer stärker militarisiert wird. Im Lissabon-Vertrag gibt es ein Aufrüstungsgebot. Beim letzten EU-Gipfel wurde wieder über eine bessere Rüstungskooperation und höhere Rüstungsausgaben verhandelt – als hätten wir keine anderen Probleme. Ja, und die EU ist auch ein Hebel zur Zerstörung von Demokratie. Sie wird von den nationalen Regierungen teilweise bewusst genutzt, um unpopuläre Entscheidungen auf Brüssel abzuwälzen und sie damit durchzusetzen: Sozialkürzungen, Ausverkauf öffentlichen Eigentums – schaun Sie sich doch das Agieren der EU-Kommission und die EuGH-Entscheidungen des letzten 20 Jahre an. Mit dem Fiskalpakt und ähnlichen Vereinbarungen wird diese Entmündigung der nationalen Parlamente zunehmend institutionalisiert.

Bei so einem schlimmen Verein kann man doch nicht Mitglied sein.

Doch, um ihn zu verändern. Wir fordern einen Neustart der EU auf neuer vertraglicher Grundlage. Ziel muss sein, soziale Rechte auf hohem Niveau zu vereinheitlichen, Mindeststeuersätze für Unternehmen festzulegen, Stoppschilder gegen Privatisierung zu setzen. Das wäre genau das Gegenteil des heutigen Dumpingwettlaufs. Natürlich macht es Sinn, wenn Staaten kooperieren, um ihr Sozialmodell gegen die wirtschaftlich Mächtigen und entfesselte Märkte zu verteidigen. Die heutigen europäischen Verträge geben dafür aber keinen Raum. Im Gegenteil: Sie zerstören den Sozialstaat.

"Die Debatten in der CSU halten Parteien am rechten Rand am Leben"

Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine
Sahra Wagenknecht mit ihrem Lebensgefährten Oskar Lafontaine am Sonntag auf der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration in Berlin

© dpa

Warum ist Frau Merkel dann so populär?

Zum einen mangelt es an populärer Konkurrenz, wenn ich mir das Personal der SPD anschaue. Zum anderen ist Merkel geschickt darin, sich aus unpopulären Entscheidungen rauszuhalten. Sie hat sich nie offensiv für Sozialabbau oder Niedriglöhne eingesetzt und wird deshalb dafür auch nicht verantwortlich gemacht. Und nicht zu vergessen: Ihr Ansehen beruht auf der großen Illusion, dass sie das Geld der deutschen Steuerzahler zusammenhält. Das tut sie aber gar nicht. Wir haben zur Rettung europäischer Banken milliardenschwere Bürgschaften übernommen. Irgendwann kommt der Zahltag.

Deutschland scheint ja trotzdem, zumindest für viele Menschen aus dem Ausland, die Insel der Glückseligen zu sein. Seit Jahresanfang gilt die neue Arbeitnehmer-Freizügigkeit, Rumänen und Bulgaren kommen, um hier ihr Glück zu suchen. Wie empfinden Sie die Situation?

Es gibt keine Welle der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien. Die Hysterie, die die CSU angeheizt hat, ist völlig daneben. Ein Problem haben wir allerdings schon länger: dass Arbeitnehmer aus Osteuropa in Deutschland zu Niedrigstlöhnen beschäftigt werden und damit das Lohnniveau insgesamt nach unten gedrückt wird. Das ist der eigentliche Angriff auf den Sozialstaat. Dagegen hätte man längst mit einem gesetzlichen Mindestlohn vorgehen können.

Dann hatte ihr heutiger Lebensgefährte Oskar Lafontaine also ganz recht, als er 2005 auf einer Kundgebung in Chemnitz vor Fremdarbeitern warnte, die zu niedrigen Löhnen Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen?

Was sollen diese alten Kamellen? Er hat das aus gutem Grund nie wiederholt.

Die Ressentiments, die jetzt von der Union geschürt werden, gibt es auch in Ihrer Partei, vor allem an der Basis.

Ressentiments gibt es in allen Parteien. Es ist leicht, solche Stimmungen zu schüren. Vor allem in Städten, die überschuldet und soziale Brennpunkte sind, zum Beispiel im Ruhrgebiet. Wo die Lage trostlos und die Arbeitslosigkeit hoch ist, sind Menschen mit Migrationshintergrund ein willkommener Sündenbock. Wer einen derartigen Diskurs befeuert, muss wissen, dass er rechten Schlägerbanden die Argumente liefert.

Apropos rechte Schlägerbanden: Freut es Sie, dass sich die NPD gerade so zerlegt?

Diese Partei gehört verboten. Neofaschistische Thesen haben in einer Demokratie keinen Platz. Insofern ist es gut, wenn sich die NPD zerlegt. Allerdings wird es am rechten Rand wohl so lange Parteien geben, wie es dafür ein gesellschaftliches Klima gibt. Auch Debatten wie die der CSU aktuell tragen dazu bei, ein solches Klima am Leben zu halten.

Werden rechtspopulistische Parteien bei der Europawahl große Erfolge haben?

Die Gefahr ist groß. Europaweit sind viele Menschen enttäuscht und ernüchtert von dem Europa, das sie erleben. Wenn die Linksparteien in den einzelnen Ländern es nicht schaffen, diese berechtigte Kritik nach links zu wenden, ist das auch ein Potenzial für Rechtspopulismus und Nationalismus. In einigen Ländern, etwa in Griechenland, haben wir sogar offen faschistische Parteien. Sie werden auf dem Humus des Unmuts und der Verzweiflung stärker. In Frankreich wird die Front National sehr wahrscheinlich ein hohes Ergebnis einfahren. Das sind alles sehr gefährliche Entwicklungen.

Ist die AfD auch rechtspopulistisch?

Man kann sie nicht mit der Front National oder gar faschistischen Parteien in einen Topf werfen. In sozialer Hinsicht vertritt die AfD klar neoliberale Positionen. Ich befürchte allerdings schon, dass die AfD im Europawahlkampf deutlich nationalistischere Töne anschlagen wird als sie es im Bundestagswahlkampf gemacht hat.

"Sollen wir mal die Nasen auflisten, die uns in der SPD nicht gefallen?"

Sahra Wagenknecht und Gregor Gysi
Genossen Sahra Wagenknecht, Gregor Gysi im Oktober 2013. Auf einer Klausurtagung der Bundestagsfraktion war Gysi als Fraktionschef bestätigt worden.

© dpa

Die Linke diskutiert den Entwurf ihres Europawahlprogramms. Fraktionschef Gregor Gysi findet ihn nicht gelungen. Die Forderung nach einem Austritt Deutschlands aus der Nato ist ihm zu nationalistisch. Für den Abgeordneten Stefan Liebich kommt das Wahlprogramm einem Aufruf zum Wahlboykott nahe. Ist da etwas dran?

Eine lebendige Debatte hat noch keiner Partei geschadet. Die Meinung von Stefan Liebich teile ich allerdings ausdrücklich nicht. Gregor Gysi ist vermutlich missverstanden worden. Die Forderung nach einem Austritt aus den militärischen Strukturen der Nato steht bei uns im Grundsatzprogramm. Das ist auch nichts Revolutionäres, Frankreich war von 1966 bis 2009 draußen.

Nicht zu Stande gekommen ist nach den Wahlen im September Rot-Rot-Grün – weder in Hessen noch im Bund. Wie kann es mal etwas werden mit einem Mitte-Links-Bündnis?

Die Frage ist, was SPD und Grüne politisch wirklich wollen. Es hat mich schon erschreckt, mit welcher Selbstverständlichkeit die SPD in den Koalitionsverhandlungen ihre Wahlversprechen entsorgt hat: existenzsichernder Mindestlohn statt jämmerliche 8,50 Euro in drei Jahren, und dann noch mit Ausnahmen, gleicher Lohn für Leiharbeiter, Vermögenssteuer, vieles andere mehr. Die SPD hat gut verhandelt, als es um die Zahl ihrer Posten ging. Inhaltlich ist der Koalitionsvertrag dagegen dürftig. So lange die SPD nur einen zerstörten Sozialstaat verwalten will, statt gute Löhne, auskömmliche Renten und eine ordentliche Arbeitslosenversicherung wiederherzustellen, werden wir nicht zusammenkommen. Was die Grünen angeht: Sie wollen offenbar die Stellung der FDP einnehmen. Und orientieren mehr und mehr auf Schwarz-Grün.

Was muss die Linke, was müssen Sie persönlich tun, um Rot-Rot-Grün möglich zu machen?

Wir werden diese riesengroße Koalition mit Argumenten vor uns hertreiben und so versuchen, die öffentliche Meinung zu verändern. So lange Gewerkschaftsspitzen gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden für eine große Koalition werben – und es an der Basis der Gewerkschaften keinen Aufschrei gibt – haben wir viel zu wenig gesellschaftlichen Druck in Richtung einer sozialeren Politik. Das muss man zur Kenntnis nehmen.

Muss die Linke Positionen räumen?

Das Letzte, was wir tun sollten, ist ein Ausverkauf unseres Programms, um uns bei SPD und Grünen anzubiedern. Dann werden wir überflüssig.

Keine Kompromisse?

Kompromisse macht man, wenn man Koalitionsverhandlungen führt und miteinander redet. Genau das hat die SPD nach der Wahl abgelehnt. Wenn wir jetzt unser Programm entsorgen und alles rauswerfen, was vielleicht der SPD nicht gefällt - dann könnten wir uns auch gleich auflösen.

Sind Sie ein Störfaktor, was das Projekt Linksbündnis angeht?

Ach, wissen Sie! Erst war Oskar Lafontaine der Störfaktor, jetzt soll ich der Störfaktor sein? Sollen wir auch mal die Nasen auflisten, die uns in der SPD nicht gefallen? Das ist wirklich Kindergarten.

Frau Wagenknecht, sind Sie ehrgeizig?

Jemand, der überhaupt keinen Ehrgeiz hat, geht vermutlich nicht in die Politik. Ich will mir irgendwann mal sagen können, dass ich dazu beigetragen habe, dieses Land wieder sozialer und menschenfreundlicher zu machen.

Wir dachten, Sie wollten Fraktionschefin werden?

Funktionen sind Mittel zum Zweck, kein Selbstzweck.

Zum Schluss noch ein Wort von Ihnen zum Papst, bitte!

Ich finde sein Apostolisches Schreiben überzeugend. Er hat eine überfällige Wertedebatte angestoßen. Wenn ein Papst deutlich macht, dass Menschen wichtiger sind als Börsenkurse und Geld zu dienen und nicht zu regieren hat, ist das eine Orientierung, die ich mir bei den sich christlich nennenden Parteien wünschen würde.

Der Papst steht Ihnen näher als die GroKo?

Ich will den Papst nicht vereinnahmen. Aber es stünde den Regierungsparteien gut zu Gesicht, über seine Mahnungen wenigstens einmal nachzudenken.

Sahra Wagenknecht (44) ist stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei und der Linken-Bundestagsfraktion. Das Gespräch führten Lutz Haverkamp und Matthias Meisner

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