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Die Leerstelle. Sunny Müller verdankt ihr Leben einem Samenspender. Sie würde ihn gerne treffen und erfahren, welche Eigenschaften er ihr vererbt hat.

© Doris Spiekermann-Klaas

Samenspende: Auf der Suche

Sunny Müller ist auf der Suche: nach sich selbst – und ihrem Erzeuger. 100000 Deutsche verdanken ihr Leben einem Samenspender.

Sie soll ihr Kind in den Arm nehmen, es trösten, aber die junge Frau steht da wie erstarrt. Zupft das schwarze T-Shirt zurecht, das sie trägt. Blickt zu Boden. Er möchte sehen, was sie fühlt, ruft ihr Schauspiellehrer. Es nachempfinden. Geh tiefer rein in die Szene, Sunny! Ich will mehr sehen! Mehr Emotionen!

Sunny Müller, 36 Jahre alt, rührt sich nicht. Ihre Haare hat sie rot-orange gefärbt, der Ansatz dunkel. Sie hat kleine Augen, Schlupflider, was ihren Blick müde aussehen lässt. „Warum bin ich eigentlich ständig die Mutter?“, klagt sie. Sie will nicht Mutter sein. Nicht in diesem Raum, in der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Lichtenberg, wo sie wie jeden Mittwochabend Theater spielt. Nicht draußen, im echten Leben.

Eigentlich liebt Sunny Müller es, in fremde Rollen zu schlüpfen. Rollen, die mit ihrem Alltag wenig zu tun haben. Doch für die Mutterrolle fehlt ihr die Fantasie. Sie glaubt auch nicht, dass sie das gut könnte, das Muttersein. Nichts in ihr regt sich, wenn sie ein Baby in der U-Bahn sieht. Sie verspürt keinen Drang zu lächeln. „Ein Kind würde mich einschränken“, sagt Sunny Müller. „Da bin ich zu egoistisch für.“ Von ihrer Mutter, die unbedingt eine Familie wollte, wird sie dieses Denken nicht haben. Vielleicht hat sie es von ihrem Vater. Den sie nicht kennt.

Sunny Müller, Büroangestellte bei der Deutschen Bahn, war zehn Jahre alt, als ihre Eltern ihr die Wahrheit sagten. Ihr Vater kam dafür in die Wohnung von Sunny und ihrer Mutter - denn schon vor Jahren war er ausgezogen. Die ernsten Blicke machten Sunny Angst, sie fürchtete, sie sei adoptiert. Dass die Fotos von ihrer Mama, schwanger, mit ihr im Bauch; die Fotos von ihr, gerade geboren, schlafend im Arm, alles Lügen waren. „Als sie nur sagten, dass mein Papa nicht mein biologischer Papa ist, war ich erleichtert“, sagt sie an einem weiteren kalten Novembertag. Es machte sie sogar stolz, dass ihre Eltern 2000 D-Mark zahlten, damit es sie gibt. Sie fühlte sich wertvoll.

Ihr fehlt ein Stück Identität

Die Idee, beim Kinderkriegen nachzuhelfen, ist nicht neu. Was neu ist, sind die technischen Möglichkeiten - und das deutsche Familienrecht kann mit dieser rasanten Entwicklung gar nicht mehr mithalten. Bis heute gibt es nur einzelne Urteile, aber keine Gesetze für Eltern, die ihre Kinder künstlich gezeugt haben. Und offen ist auch, wie Kinder den Gedanken verkraften, dass sie in einem Reagenzglas gezeugt wurden, drei Eltern haben und ihre Abstammung nicht oder nur teilweise kennen.

So wie Sunny Müller. Ihr Papa hatte einen Leistenhoden, erklärten ihre Eltern damals, und konnte keine Kinder zeugen. Deswegen haben sie sich für eine künstliche Befruchtung entschieden. Sunny ist entstanden, indem ein Frauenarzt ihrer Mutter die Spermien eines Unbekannten in die Gebärmutter einführte. Weil der Spender anonym bleiben wollte, würde Sunny ihn wahrscheinlich nicht finden können, sagten ihre Eltern. Das akzeptierte sie. Erst einmal.

Ihr Papa blieb ihr Papa. Den anderen Mann nennt sie Spender. Sie sagt, sie habe nicht viel über den Unbekannten nachgedacht. Sunny Müller erzählt aber auch, dass ihre Pubertät schwierig verlief, sie klaute und begann, in Rollen zu schlüpfen. Mit zwölf wollte Sunny Müller ein Vampir sein, später eine Hexe.

Sunny kennt ihre Abstammung nicht vollständig, ihr fehlt ein Stück Identität. Beim Theaterspielen fühlt sie die Leere nicht, sie mag es, wenn sie geschminkt wird und Kostüme trägt. In ihrem Zimmer hängen Gewänder und Korsagen. Auf einem Regal stehen sieben Perücken. Eine ist grün, eine lila-blau, eine pink, eine schwarz. Sie nimmt Unterricht, macht mit bei Rollenspielen, jobbt als Filmkomparsin. „Ich drücke gern negative Gefühle aus“, sagt Sunny Müller. Verzweiflung. Trauer. Wut.

Nicht mehr nur Vater, Mutter, Kind

Typisch, sagen Psychologen. Erziehen Eltern ein adoptiertes oder künstlich gezeugtes Kind auch noch so liebevoll, wird es trotzdem seine Herkunft wissen wollen. „Jeder Mensch hat das Bedürfnis, seine Wurzeln zu kennen“, sagt Stephanie Krüger. Sie ist Psychiaterin und Chefärztin des Zentrums für Seelische Frauengesundheit am Berliner Humboldt-Klinikum. „Es kann sein, dass jemand seine Identität sonst sein Leben lang sucht.“ Gerade der Vater sei für die Entwicklung einer Frau sehr wichtig. An seinem Verhalten misst sich ihr Selbstwert.

Doch es gibt heute nicht mehr nur das Modell Vater, Mutter, Kind. Alleinstehende Frauen wollen Kinder haben, auch wenn ihnen der richtige Mann fehlt. Weil die Mütter immer älter werden, sinkt die Chance, auf natürlichem Weg schwanger zu werden. Frauen wollen mit Männern oder Frauen, Männer mit Frauen oder Männern zusammen sein.

Das erste künstlich gezeugte Kind kam 1978 auf die Welt. In England. Vergangenen Dezember hat es als erstes Land weltweit die künstliche Befruchtung mit Genmaterial von drei Menschen erlaubt. Eine umstrittene Methode, mit der die Übertragung einer schweren Erbkrankheit verhindert werden soll. Weil Eizellspende und Leihmutterschaft in Deutschland verboten sind, boomt in Spanien, den Niederlanden und der Tschechischen Republik der Reproduktionstourismus. Gut 100 000 Kinder sollen durch - auch hierzulande legale - Samenspenden entstanden sein, doch die Rechtslage ist noch immer kompliziert. Das Bundesverfassungsgericht entschied 1989, dass es zum Persönlichkeitsrecht gehört, die eigene Abstammung zu kennen.

Abstammungsrecht soll reformiert werden

Die Leerstelle. Sunny Müller verdankt ihr Leben einem Samenspender. Sie würde ihn gerne treffen und erfahren, welche Eigenschaften er ihr vererbt hat.
Die Leerstelle. Sunny Müller verdankt ihr Leben einem Samenspender. Sie würde ihn gerne treffen und erfahren, welche Eigenschaften er ihr vererbt hat.

© Doris Spiekermann-Klaas

Ein weißer Altbau am Kurfürstendamm, auf dem Kanzleischild steht: Lore Maria Peschel-Gutzeit. Sie war Richterin, Justizsenatorin in Hamburg und Berlin und ist mit 83 Jahren noch immer Familienanwältin. Wenn sie Fälle behandelt, bei denen es um künstliche Befruchtung geht, wird es knifflig. „Die rechtliche Lage ist in Deutschland sehr restriktiv“, sagt die Juristin. „Bei uns basiert das Familien- und Erbrecht auf der Genetik und es gilt das Ein-Elternprinzip. Ein Kind hat in Deutschland grundsätzlich nur einen Vater und eine Mutter.“

Zu Peschel-Gutzeit kommen Mandanten, die andere Familienmodelle leben: Zwei lesbische Frauen streiten mit dem Samenspender ihres Kindes, der plötzlich Vater sein möchte. In einem anderen Fall haben zwei Schwule eine Leihmutter gefunden, die ihr Kind doch selbst aufziehen wollte. Eine Frau wollte ein Kind, aber hatte keinen Partner. Weil sie alleinstehend war, ging sie ins Ausland und traf mit dem Samenspender die Vereinbarung, dass sie niemals Unterhalt und er niemals Umgang mit dem Kind fordern wird. „Beides hält nach deutschem Recht nicht. Sie können auf elterliche Sorgen nicht verzichten“, sagt Peschel-Gutzeit. „Da gibt es noch viele offene Fragen.“

Das Bundesgesundheitsministerium möchte in den nächsten Monaten ein zentrales Samenspender-Register einführen. Die Grünen fordern ein Gesetz, das den Auskunftsanspruch von Spenderkindern sichert. Ein vom Justizministerium organisierter Arbeitskreis soll Vorschläge für ein reformiertes Abstammungsrecht diskutieren. Eines, das zeitgemäß ist.

Er war ihr Papa - und jetzt war er fort

Mit Mitte 20 sah Sunny Müller eine Fernsehsendung über einen Spender, der sein Kind kurz vor seinem Tod finden wollte. Was, wenn ihr Spender das auch tat? Sunny Müller begann, ihn zu suchen. Sie wüsste gern, wie er spricht, lacht, wie er heißt. Vielleicht hat er grün-braune Augen, denkt sie manchmal. Sie sieht ihrer Mutter sehr ähnlich. Das lange Gesicht, die schmalen Lippen und die kleinen Augen hat sie von ihr. Die Augenfarbe nicht. Vielleicht hat sie von ihm die Eigenschaften, die sie nicht von ihrer Mutter geerbt hat. Das Egoistische. Emotionslose. Ihren nicht so sympathischen Teil. Sunny Müller glaubt nicht, dass ein Treffen ihr Leben komplett verändern würde. „Aber da ist eine Unvollständigkeit“, sagt sie. „Ein kleines Stück, das fehlt.“ Ein Stück, das ihr erklärt, wer sie ist.

Nach dem Unterricht sitzt Sunny Müller in ihrem Auto, ist stiller als sonst. Der Unterricht hat Erinnerungen geweckt. Sie war drei, als sich ihre Eltern trennten. Später verzieh sie ihrem Papa, wenn er mal wieder betrunken war und schrie, sie sei nicht seine Tochter! Er bedrängte und schlug ihre Stiefschwester. Mit 18 konnte Sunny nicht mehr verzeihen. Sie brach den Kontakt ab, sah ihn fünf Jahre nicht - bis die Polizei anrief. Der Beamte sagte, es sei eine Überdosis gewesen. Ein Jahr lang träumte sie von ihm. Ihre Kindheit war nicht ideal, aber er war ihr Papa - und jetzt war er fort.

Sunny Müller geht jeden Freitag zu einem Psychotherapeuten. In den Sitzungen geht es um Probleme mit ihrer Selbstwahrnehmung, ihrem Körpergefühl, ihrer Beziehung zu sich selbst. Es geht um ihre Probleme mit Männern. Sie hält es nicht für möglich, dass sich zwei Menschen lange treu sind. „Ich kann an das Konzept von Beziehungen einfach nicht glauben“, sagt sie. Über ihren Papa und ihren Spender sprechen sie kaum. Sie kann sich schon vorstellen, dass sie so gern in Rollen schlüpft, weil sie nicht wirklich weiß, wer sie ist. Ob sie alleine bleibt, weil ihr das Urvertrauen fehlt. „Vielleicht kann man manches davon psychologisch erklären“, sagt sie.

Die Suche hat sie fast aufgegeben

Sunny Müller blinkt und fährt rechts an. Sie hat vergessen, ihrer Stiefschwester zu schreiben, dass sie unterwegs ist. Ihr Papa hatte viele Freundinnen gehabt. Eine von ihnen brachte eine Tochter mit in die Beziehung, die Sunny Müller ihre Stiefschwester nennt. Sie wurden zu einer von vielen Patchworkfamilien in einem Land, in dem jede dritte Ehe geschieden wird. Mit 14 Jahren kam die Stiefschwester in ein Kinderheim. Sunny Müller riss von zu Hause aus und ging mit ihr. Seitdem sind sie sich Ersatzpartner und Ersatzfamilie. Die engste Bindung hat sie also zu einer Frau, mit der sie nicht blutsverwandt ist.

„Familie hat für mich nichts mit Genetik zu tun“, sagt sie. Trotzdem ist da dieses Puzzlestück, das fehlt und sie immer mal wieder beschäftigt. Wie 2013, als das Oberlandesgericht Hamm entschied: Eine Samenbank muss einem anonym gezeugten Kind den Namen des leiblichen Vaters nennen. Sunny Müllers Herz pochte. So lange hatte sie erfolglos gesucht. Würde sie ihn jetzt finden?

Ihre Mutter bereute die anonyme Spende damals bereits, machte sich Vorwürfe, dass ihre Tochter ihren genetischen Vater nicht kennt. Sie erzählte ihr noch einmal alles, was sie wusste. Sunny Müller kontaktierte die Praxis, aber der Arzt war inzwischen gestorben, alle Dokumente bei einem Wasserschaden zerstört. Ihr Erzeuger blieb ein Niemand.

Sunny Müller hat fast aufgegeben, fragt sich, warum sie nie etwas von ihrem Spender gehört hat. Ob er nicht mehr lebt. Ob er Angst hat, dass sie Unterhalt fordert. „Oder“, sagt Sunny Müller, „ich bin ihm einfach egal.“ Wenn sie in der U-Bahn sitzt, schaut Sunny Müller nicht in die Gesichter der Unbekannten und überlegt, ob einer ihr Spender sein könnte. Sie sieht ihrer Mutter ja so ähnlich. Ein komisches Gefühl hat sie nur manchmal nach einem One-Night-Stand. Sunny Müller hatte öfter Affären mit älteren Männern. „Auch wenn Berlin groß ist, ist die Wahrscheinlichkeit da“, sagt sie. „Wobei man das doch spüren muss. Oder?“

Wenn sie den Richtigen finden sollte, will sie dieses Risiko nicht eingehen. Und vom Mann, mit dem sie dann zusammen ist, einen Vaterschaftstest verlangen.

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