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Politik: Schalke – Osten 1 : 15

Im Ruhrrevier ist man der Meinung, dass die Städtebauförderung des Bundes aus dem Lot geraten ist

Von Jürgen Zurheide,

Gelsenkirchen

Die meisten Deutschen kennen Schalke 04. Die Heimatstadt des Fußballclubs kennen schon nicht mehr so viele. Auch Bremens Star Ailton, der kommende Saison zu Schalke wechselt, hat den Standort seines künftigen Arbeitgebers vor der Unterschrift nicht näher angeschaut. Später hat er offenbar einiges über Gelsenkirchen zu hören bekommen. Die Stadt sei wohl ein „Desaster“, er überlege, weiter in Bremen zu wohnen, sagte er darauf vor Ostern. Das war zu dem Zeitpunkt, als Wolfram Kuschke, Chef der Düsseldorfer Staatskanzlei, angesichts einer neuen, katastrophalen Bevölkerungsprognose für das Ruhrgebiet einmal mehr über das Schicksal der Region ins Grübeln kam. Er ist nicht der einzige in der Landesregierung. Wenn Bauminister Michael Vesper (Grüne) auswärtigen Besuchern die Probleme des Ruhrreviers konzentriert zeigen möchte, beginnt er seine kleine Reise jeweils in Gelsenkirchen. Seinen Bundeskollegen, den auch für den Aufbau Ost zuständigen Minister Manfred Stolpe hat er kürzlich hierhin geführt. Stolpe zeigte sich hernach beeindruckt. „Die Probleme richten sich nicht nach den Himmelsrichtungen“, erklärt Vesper in solchen Situationen, und niemand mag ihm da widersprechen.

Der Bahnhof von Gelsenkirchen zum Beispiel steht seit Jahrzehnten auf irgendwelchen Modernisierungslisten, aber passiert ist wenig. Er liegt versteckt hinter einer vierspurigen Hochstraße, der Eingang ist eine Art Unterführung. Auf der Seite, die üblicherweise als Bahnhofsvorplatz bezeichnet wird, hat man in den 80er Jahren ein Center gebaut, dessen Betonquader durch den hellgelben oder grünen Anstrich nur wenig freundlicher aussehen. In der dahinter beginnenden Fußgängerzone fällt einem zuerst ein Geschäft mit Tausenden Artikeln auf, von denen ganz viele für einen Euro schon draußen feilgeboten werden. Auf den Grabbeltischen wühlen Frauen mit Kopftüchern neben älteren Männern, deren gegerbte Gesichter davon erzählen, dass sie früher entweder auf der Hütte oder unter Tage gearbeitet haben.

Gelsenkirchen, haben die Statistiker ermittelt, wird in den kommenden 16 Jahren mehr als jeden zehnten Einwohner verlieren. Im engeren Ruhrrevier ist das der traurige Spitzenplatz, aber selbst Städte wie Essen oder Duisburg liegen nur knapp darunter. Besonders schlimm soll es nach der jüngsten Prognose in Hagen und Wuppertal kommen – mit einem Minus von 16 beziehungsweise mehr als 13 Prozent der heutigen Einwohner.

Besonders erschreckend ist freilich, dass jene, die bleiben, den Städten ökonomisch kaum weiterhelfen. „Die Gruppe der Senioren nimmt zu, auch die Zahl der Ausländer“, berichtet Kuschke. Dabei ist schon jetzt der Anteil von Menschen ohne deutschen Pass im Ruhrrevier sehr hoch: Von den rund 5,4 Millionen Einwohnern zählen 612 000 zur Kategorie ausländische Mitbürger. Weil Kuschke als Politiker nicht in Pessimismus verfallen möchte, versucht er aus den schlechten Nachrichten gute zu machen: „Das Revier muss die Pionierrolle übernehmen und sich besonders auf dem Gebiet der Gesundheitswirtschaft profilieren.“ Damit, so hofft er, könne man der mit gut 15 Prozent überdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit begegnen. Als praktischen Vorschlag hat er noch nachgereicht, dass man schließlich künftig aus Kindergärten Altentagesstätten machen könne.

Vesper reicht das nicht. „Das ist nicht mehr als eine Prognose, wir müssen mit unserer Politik dagegen halten“, verlangt der Grüne. In den Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf möchte er kräftiger fördern. Das Land gibt gegenwärtig knapp 200 Millionen Euro pro Jahr, mit privaten und weiteren öffentlichen Mitteln werden daraus mehr als 1,3 Milliarden an Investitionen. „Wir erneuern das Stadtbild, bauen Spielplätze, und manchmal reicht es schon, das Selbstbewusstsein in den Stadtteilen zu wecken“, sagt Vesper. Den Kommunalpolitikern wirft er vor, zu oft nur auf gewerbliche Investoren und zu wenig auf die urbane Qualität geachtet zu haben: „Die haben jedem Investor den roten Teppich ausgelegt, aber nicht verstanden, dass auch Investitionen im Wohnungsbau Investitionen in die Zukunft sind.“

Das will er seinen Kollegen aus der Berliner Grünen-Führung zeigen – nicht ohne Hintergedanken. „Der Bund fördert unsere Städte pro Einwohner im Schnitt mit 1,80 Euro, der Osten erhält 27,12 Euro.“ Eine Relation von eins zu fünfzehn. „Das Verhältnis stimmt nicht mehr“, argumentiert Vesper. An diesem Freitag wird er die Parteioberen durch Gelsenkirchen führen, um sie davon zu überzeugen, dass neben dem Aufbau Ost auch der Umbau West finanziert werden muss. Er könnte sie nachmittags zum Training der Schalker Profis in der neuen, privat finanzierten Arena im Norden der Stadt führen. Da kann er erklären, dass Schalke 04 inzwischen der größte Steuerzahler der Stadt ist – und dass die Autokennzeichen zeigen, wo die besser verdienenden Spieler wohnen: kaum in Gelsenkirchen, sondern im grünen Umland Richtung Münster – und Bremen.

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