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Politik: Scheinbar verbraucht eine siegreiche Opposition ihre erste Regierungszeit mit dem Erlernen des Regierens

1999 schien das Ende von Rot-Grün nur noch eine Frage von Monaten zu sein. Dann die Zeitenwende: Die CDU steckt im Skandalsumpf.

1999 schien das Ende von Rot-Grün nur noch eine Frage von Monaten zu sein. Dann die Zeitenwende: Die CDU steckt im Skandalsumpf. Und der rot-grünen Chaostruppe scheint alles zu glücken. Fast alles. Und nun?

Jetzt bin ich fein raus. Denn ich habe das ganze vergangene Jahr über behauptet, dass es so nicht weiter abwärts gehen könne mit der frisch gewählten Regierung.

Gewiss, jetzt hilft die Opposition. Gebläht von Schadenfreude sehe ich meine alte Mutter in Kassel herumstolzieren: "Manfred Kanther! Der Sheriff persönlich beim Geldwaschen ertappt!" Tatsächlich möchte man auf ehrwürdige Charaktertheorien zurückgreifen: Wer allzu laut nach Law and Order ruft, den darf man selber krimineller Neigungen verdächtigen. Aber das Elend der CDU erklärt die neue Hochschätzung der Regierung nur zum Teil. Die Wahlniederlagen und demoskopischen Abstürze der SPD (und der Grünen) im vergangenen Jahr entspringen einer Dramaturgie, die der Regierungswechsel mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit auslöst.

Obwohl das Schema so einfach ausschaut: aufgrund des Wählerwillens wechseln Regierung und Opposition die Plätze - gleichwohl hat dieser Wechsel anscheinend außerordentliche Tücken. Denn Regieren ist grundsätzlich etwas völlig Anderes als Opposition. In der Opposition beschäftigt sich eine Partei eben damit und nicht etwa mit Projekten, die sie dann als Regierung bloß noch in die Tat umsetzen muss.

Solche Asymmetrien sind auch aus anderen Feldern wohlbekannt. Bei dem preußischen Kriegsphilosophen Clausewitz kann man nachlesen, wieso der Angriff etwas völlig Anderes ist als eine sozusagen umgekehrte Verteidigung (und umgekehrt). Seit langem ist bekannt, dass Literaturkritiker, außerstande wären, auch nur für eine einzige Saison die literarische Produktion zu übernehmen. Die Unterscheidung Kritiker/Autor scheint unumkehrbar.

Anders die Unterscheidung Regierung/Opposition. Hier können die allgemeinen Wahlen tatsächlich eine Lage schaffen, in welcher der Kritiker selber zum Schreiben des Romans bestellt wird. Das zu lernen, braucht eine gewisse Zeit; insbesondere dann, wenn für den Roman Vornahmen existieren: Reform des Staatsbürgerrechts, des Gesundheitswesens, des Besteuerungssystems; den Wohlfahrtsstaat rückbauen, ohne ihn zu zerstören. Zu schweigen von dem Krieg in Jugoslawien, der alles andere als zu den Vornehmen gehörte.

Augenscheinlich verbraucht eine siegreiche Oppositionspartei ihre erste Regierungszeit mit dem Erlernen des Regierens. Man erinnere sich an das sagenhafte Ungeschick, das Bundeskanzler Helmut Kohl zuerst so gründlich verfolgte, dass das Publikum täglich auf seine Ersetzung durch Gerhard Stoltenberg gefasst war. Aber auch Mitterrand und Clinton erweckten in ihrer ersten Regierungszeit den Eindruck, dass sie dem Job nicht gewachsen seien. Noch komplizierter wird die Lage für neue Regierungen, weil die Medien wie ihr Publikum sie beim Erlernen des Regierens mit einem Misstrauen beobachten, das zunächst unverständlich bleibt. Wieso? schüttelt man den Kopf, haben die Wähler nicht 1998 den Regierungswechsel gewollt? Setzte sich in den Medien nicht mit einer gewissen Unwiderstehlichkeit durch, dass Deutschland einen neuen Kanzler brauche?

Unter dem Aspekt demokratischer Kontrolle muss man das Misstrauen der Medien und des Publikums gegen eine neue Regierung als gutes Zeichen politischer Normalität lesen. Mir scheint aber auch ein bisschen Tiefenhermeneutik erlaubt.

Offensichtlich erfährt das Publikum, das einen Regierungschef durch einen anderen ersetzt, seine eigene Maßnahme trotz ihrer Legitimität als eine Art Königsmord. Der neue Regierungschef wird als Usurpator betrachtet, der tiefes Misstrauen verdient - ein Mechanismus, der um so gründlicher greift, wenn der gestürzte Regierungschef als alter, der neue dagegen als junger Mann klassifiziert werden kann. Bill Clinton gegen George Bush, Gerhard Schröder gegen Helmut Kohl. Dass es im Fall John F. Kennedys, der den alten Eisenhower ablöste, tatsächlich zu einem Tötungsakt kam, obwohl sich die Ablösung völlig legitim vollzog, passt in diese leicht unheimliche Dramaturgie allzu genau.

Wenn es dem neuen Regierungschef gelingt, die Spanne Zeit zu beschaffen, die er für das Erlernen des Regierens, das Schreiben des Romans braucht, tritt diese Dramaturgie außer Kraft, und man gewöhnt sich daran, dass der Nachrichtensprecher von "Bundeskanzler Gerhard Schröder" statt von "Bundeskanzler Helmut Kohl" redet. Das ist dann Normalität geworden, kein Ausnahmezustand mehr, den Usurpatoren bestimmen, die noch dazu Dilettanten sind.

Ich gehe also davon aus, dass die nächsten Wahlen nicht zu deren Abstrafung genutzt werden müssen.Der Autor ist freier Publizist und lebt in Berlin

Aus der Serie "Zeit zum Regieren", Teil 3

Michael Rutschky

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