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2012

© AFP

Politik: Schluss mit dem Ge’eule!

Stamatis, Andreas, Konstantinos – drei junge Athener wollen mit neuen Ideen Griechenland und sich selbst retten.

Die Mutter kann sich heute freuen, dass ihr Sohn nicht auf sie gehört hat. Sie hatte sich vorgestellt, dass er Beamter werden solle, und sie war gar nicht froh zu hören, dass er sich selbstständig machen wolle. Beamter – das schien ihr das Sicherste zu sein. Es war jahrzehntelang auch das Übliche.

Der Sohn kam 1983 zur Welt, als es in Griechenland gerade losgegangen war mit dem Vergnügen der Politiker an dem vielen EU-Geld aus Brüssel – und mit dem Schuldenmachen. Der Sozialist Andreas Papandreou erhöhte die Staatsverschuldung Griechenlands von 30 Prozent in 1981 – sein Amtsantritt – bis 1990 auf 80 Prozent. Und seine Nachfolger machten weiter so. Der Staat gab seinen Bürgern Geld, vor allem in Form von Arbeitsplätzen in der Verwaltung, die dafür beständig vergrößert wurde. Man wurde Beamter, wenn es irgend ging. Das verhieß eine ruhige Zukunft.

Doch Stamatis Tzikniadopoulos, heute 29, wollte das nicht. Er wollte mit seiner Arbeit etwas Sinnvolles tun.

2006 nahm er einen Kredit auf und eröffnete ein kleines Lebensmittelgeschäft im Athener Stadtteil Makrigianni, zwei Minuten von der U-Bahn-Station Akropolis entfernt. Das Geschäft heißt „Ellinika Kaloudia“, das bedeutet so viel wie „das Beste aus Griechenland“. Stamatis Tzikniadopoulos bezieht seine Waren fast ausschließlich von griechischen Herstellern, die er damit unterstützt. Das hat in den aktuellen Krisenzeiten einen ganz neuen Stellenwert. „Ellinika Kaloudia“ ist nicht nur ein x-beliebiges Geschäft, Tzikniadopoulos hält ein Stück produktives, gutes Griechenland am Leben.

Und an das glaubt er: an das gute Griechenland. Damit ist er Teil einer kleinen, aber wachsenden Bewegung. Überall in Athen und im Land sieht man zwischen den vielen heruntergelassenen Rollläden auch Schilder, die von Neueröffnungen künden, von Aufbruch, von Beharrungswillen, von Einsatz statt Fluchtbewegung. Dahinter stecken in der Regel die jüngeren Leute, die um die 30, die Generation, von der es heißt, dass sie ihre besten Jahre an die Krise verliere. Weil sie keine Arbeit findet oder gefundene verliert, weil sie zurückzieht zu den Eltern, statt eine eigene Familie zu gründen. Bisher hieß es, diese Generation suche ihr Glück nun im Ausland. Doch es gibt eine Gegenbewegung. Jene, die wie Stamatis Tzikniadopoulos bleiben. Die ihr heruntergewirtschaftetes Heimatland mit ihren Ideen und ihrer Arbeitskraft neu gestalten und wieder aufbauen wollen – und zwar als Selbstständige. Mit eigenem Plan und ohne Diktat von oben. Tzikniadopoulos sagt: „Wir sind die Generation, die etwas bewegen kann. Das Potenzial unseres Landes ist nicht ausgeschöpft.“

Es ist ein sonniger Herbsttag 2012. Die schön geschwungene Ladentür aus hellem Holz steht einladend offen, und durch die kommt nun schniefend eine Kundin herein. Sie läuft über den Dielenboden, der ein Mosaik aus rot-violetten Kacheln umrahmt, vorbei an den hohen Holzregalen, den Weinflaschen, Pasta, Reis, Konserven, Marmeladen, den Gläsern und Säcken mit Gewürzen und Nüssen. Dann ist sie am Tresen und fragt nach grünem Bergtee. Tzikniadopoulos wiegt einen Beutel für sie ab. Und bevor sie geht, träufelt er ihr noch ein paar Tropfen ätherisches Öl auf ein Taschentuch. Das reicht er ihr, sie soll das einatmen. Gegen den Schnupfen. Dankbar schaut sie ihn an. Dass er sich kümmert!

Als sie weg ist, sortiert er hier und dort ein paar Lebensmittel in die Regale, rückt Ware in Position. Dann stellt er sich an den Tresen und erzählt von seiner Mutter, die anfangs skeptisch gewesen sei – aber jetzt! „Jetzt, durch die ganzen Kürzungen im Staatsapparat, ist sie heilfroh darüber, dass ich mich damals trotz ihrer Bedenken selbstständig gemacht habe“, sagt der Sohn. Denn seit die EU und der Internationale Währungsfonds Griechenland Kredite gewähren, muss im Land radikal gespart werden – und gespart wird vor allem auch bei den Beamten. Wer keine Kündigung erhält, dem wird das Gehalt gekürzt. Es ist längst nicht mehr sicher in der Verwaltung.

Der kleine Laden dagegen läuft trotz der Krise gut. Zwar kaufe der einzelne Kunde nicht mehr so viel wie früher, sagt Tzikniadopoulos, dafür habe aber die Zahl der Kunden zugenommen. Als sei das nationale Bewusstsein stärker geworden. Man will lieber dem griechischen Bauern etwas abkaufen als dem südamerikanischen oder neuseeländischen.

Ein weiterer Kunde betritt das Geschäft und sucht nach Milch. Tzikniadopoulos bedauert, die wurde leider nicht geliefert. Das ist anders als vor einem Jahr. Das Unternehmen, das ihm Milch liefert, fährt nur noch zweimal die Woche seine Ware aus. Weil die Firma sparen muss.

Und noch etwas hat sich geändert: die Gemütsverfassung vieler Menschen, die das „Ellinika Kaloudia“ betreten. „Ich bin hier schon fast zum Psychologen geworden“, sagt Tzikniadopoulos. Er stützt sich auf den Tresen neben seiner Kasse ab und schaut plötzlich nicht mehr ganz so froh und optimistisch. Die Kunden nutzten die private Atmosphäre des gemütlichen Lädchens und klagten ihm ihr Leid. In den vergangenen eineinhalb Jahren, in denen die Renten drastisch gekürzt wurden und viele Menschen ihre Stelle verloren haben, habe das deutlich zugenommen, sagt er. „Ich hatte hier schon Kunden stehen, die aus Verzweiflung über ihre Lage geweint haben.“ Das nehme ihn jedes Mal sehr mit, und er wisse auch gar nicht, wie er das verarbeiten solle.

An solche Begegnungen war 2006 auch noch nicht zu denken gewesen, als Tzikniadopoulos anfing, seinen Laden zu planen. Damals – so muss man das heute fast formulieren, so sehr hat sich alles in Griechenland geändert seit 2009 – damals also gaben Banken ihm, dem 23-Jährigen, für die Renovierung und den Start ins Kaufmannsleben einen Kredit. Heute undenkbar. Heute bekomme niemand mehr Kredit von einer griechischen Bank. „Wer sich heute selbstständig machen will“, sagt Tzikniadopoulos, „der muss das selbst finanzieren.“

Vor der Bar Zero im Norden Athens stellt Andreas Kalodakis, 34, seinen Frappé auf den Tisch und redet sich in Rage. „Hierzulande ging es bisher immer nur um Geld und noch mehr Geld. Alle waren ruhig, wenn sie genug Geld hatten.“ Korruption und Geldgier – nicht nur von griechischer Seite – haben das Land in den Ruin geführt. Kalodakis haut beim Reden immer wieder mit der Hand flach auf den Tisch. Der schlaksige Mann ist alt genug, um schon die Vorzeichen der Krise bewusst miterlebt zu haben.

1998, als unter Regierungschef Kostas Simitis das Haushaltsdefizit in Rekordschnelle schrumpfte, auf ein Prozent im Jahr 2000, als Griechenland den Euro einführte. 2004, als Simitis’ Nachfolger Kostas Karamanlis den Vorgänger recht unverblümt einen Betrüger nannte und dessen Haushalt „eine Fiktion“. Und dann 2009 der Zusammenbruch, der das Land und die ganze Euro-Zone bis heute beherrscht.

Er haut noch mal auf den Tisch. Kalodakis kann sich hier so aufführen, denn er ist einer der vier Besitzer der Bar Zero, die erst im September eröffnet wurde. Und dann mit so einem hoffnungslosen Namen? Anfangs wollten die vier Besitzer ihrer Bar gar keinen Namen geben, sagt Kalodakis. Einer von ihnen habe irgendwann mal entnervt „nein, nichts, nada, zero“ gerufen. Kalodakis grinst. Da sei dann doch einer gewesen. Alle im Land stünden momentan doch irgendwie am Nullpunkt. Und dann, sagt er, sei die Bar auch ein Zeichen dafür, wie aus dem Nichts etwas entstehen kann.

Einen Kredit für ihre Unternehmung haben sie nicht bekommen. Das entlastet sie nun von fälligen Ratenzahlungen. Und überhaupt hätten sie die Bar ja nicht, um Geld zu machen. Das Startkapital für die Bar haben sie sich zusammengeliehen bei ihren Familien, Freunden, Bekannten. „Es ist eine Art Experiment“, sagt Kalodakis. Er und seine Freunde waren sich einig, es auf eigene Faust versuchen zu wollen, denn wie viele andere Griechen ins Ausland gehen wollten sie nicht. Er sagt: „Hier sind wir aufgewachsen. Hier sind unsere Wurzeln, Familien und Freunde. Wir sind entschlossen, hier in Griechenland etwas zu bewegen.“ Und er hofft, dass sie beispielgebend sein können. „Wenn wir vier es schaffen“, sagt Kalodakis, „dann schaffen es auch zehn und dann 100 andere hier und so weiter.“

Als die vier Freunde ihren Eltern von ihrer Idee mit der Bar erzählten, kam es zu unerwarteten Reaktionen. „Noch vor vier Jahren hätten die uns für verrückt erklärt, etwas zu eröffnen, wofür man keinen Eintritt verlangen kann“, sagt Kalodakis und schaut vergnügt. „Doch das ist jetzt anders.“ Die Krise scheine die Menschen auch aus alten Denkmustern befreit zu haben. In Krisenzeiten wollten die Leute etwas bewegen. „Sie werden offener und kreativer und rücken mehr zusammen.“ Sie verwandeln ihre Bar zweimal pro Woche in eine Theaterbühne. Unterschiedliche Schauspielgruppen treten bei ihnen auf – Theater, Musical, Kabarett. Der Eintritt ist frei, nach den Vorstellungen geht jeweils ein Hut für Spenden herum. Kalodakis sagt, ihm und seinen Freunden gehe es darum, ein Treffpunkt zum Austausch zu sein, zu dem wirklich jeder Zutritt hat.

Auf der Straße fährt ein Bekannter vorbei, der eine Hausnummer weiter einen kleinen Fahrradladen eröffnet hat. Die Männer grüßen sich, verabreden sich über die Straße hinweg. Kalodakis lässt sein Feuerzeug schnalzen und zündet sich noch eine Zigarette an.

Als ein junger Mann die Bar betritt, steht er von seinem gepolsterten Stuhl draußen auf und geht dem Gast hinterher. Im Vorbeigehen wischt er über die Bar, an der silberfarbene Hocker mit schwarzen Polstern stehen. Ein Mix aus Reggaemusik und Punk ertönt aus den Lautsprechern. Dem jungen Mann stellt er einen Kaffee hin, dann steht er hinter der Bar und sieht zufrieden aus.

Er hat in einem großen internationalen Unternehmen gearbeitet. Das war auch das, was er sich vorgestellt hatte, als er in Athen und London Politik studierte, Schwerpunkt Human Resources. Große Firmen, große Aufgaben. Aber das ist nun vorbei. Konstantinos Voulgaris, 31, der vor zwei Jahren vielleicht einen Traumjob antrat, wurde bald darauf wieder entlassen. Seine Stelle wurde weggekürzt – „von einem der Deutschen in der Firma“. Voulgaris lacht. Ausgerechnet!

2010 ist das Jahr, in dem die Proteste gegen die Sparprogramme losgehen, die EU und IWF im Gegenzug für Finanzhilfen von Griechenland verlangen. Bei den ersten großen Protesten sterben drei Menschen.

Danach sei seine Suche nach einer neuen Anstellung trotz der guten Ausbildung ohne Erfolg geblieben. Er bewarb sich im In- und Ausland und wäre für einen guten Job auch weggegangen. Allein, es wurde ihm keiner angeboten. Es war ihm nicht unrecht. „Eigentlich“, sagt er, „wollte ich immer hier bleiben.“

Dann widerfuhr ihm ein zweites „Ausgerechnet“. Durch Zufall erfuhr Voulgaris von einem Programm der EU namens ESPA, das Unternehmensgründungen in Griechenland finanziell unterstützt. Die EU, deren Spardiktat viele Menschen in die Arbeitslosigkeit stürzte, stand also bereit, deren Weg in die Selbstständigkeit zu unterstützen. Voulgaris fühlte sich sofort angesprochen. „Das war genau das, was ich wollte. Endlich anpacken und mit meinen eigenen Ideen im Lande selbst etwas schaffen.“ Und mehr noch: Er wurde auch inhaltlich durch seine eigene und die allgemeine Lage im Land inspiriert. Er gründete ein Dienstleistungsunternehmen mit dem Namen RightCV. CV ist die Abkürzung für Lebenslauf. Er bietet die Optimierung von Bewerbungsunterlagen für Griechenland und England an sowie Seminare zu Vorstellungsgesprächen für beide Länder.

Mit dieser Firmenidee hat Voulgaris sich vor einem halben Jahr für das ESPA beworben und wurde angenommen. Das EU-Programm zahlt ihm die Grundausgaben – und er kann sogar jemanden anstellen. „Das ist wunderbar“, sagt Voulgaris, denn so schaffe er selbst Arbeitsplätze. Die Augen des jungen Mannes strahlen. Noch sei es zwar nur einer, aber er hoffe, es innerhalb der zweijährigen Frist zu schaffen, dass daraus weitere werden. Dann kann er sich vielleicht auch richtige Büroräume mieten, derzeit residiert die Firma in der Wohnung seines Onkels.

Das Leben als Rädchen in einem gesponserten Bereich verschafft Voulgaris nähere Einblicke in Zusammenhänge, die allgemein als korruptionsanfällig gelten. Die Organisation ESPA gebe das Geld, das er zur Förderung bekommen soll, an die griechische Firma Elanet weiter. Und Voulgaris ist „nicht sicher, ob da nicht doch jemand Geld abzwackt“.

Auch von den anderen Unwägbarkeiten wirtschaftlicher Existenzsicherung ist er nun als Selbstständiger ganz anders betroffen als zuvor in seinem Angestelltenverhältnis. Die Steuerpolitik etwa – die gerade jetzt in Krisenzeiten dauernd zur Disposition steht. „Plötzliche Erhöhungen, die hier auf der politischen Tagesordnung zu stehen scheinen, können die Firma ruinieren“, sagt der Jungunternehmer. Und auch die Strom- sowie die Heizölpreise, die drastisch gestiegen sind und weiter in die Höhe schnellen, machen ihm Sorgen. Aber besser diese Sorgen, und ein aktiver Part im Spiel sein, als ängstliches Verharren und Nichtstun.

Am meisten entsetze ihn, sagt Voulgaris, dass es trotz allem auch unter den 30-Jährigen immer noch welche gebe, die am liebsten Beamte sein wollen, weil das einfach und bequem sei.

Theodora Mavropoulos[Athen]

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