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Politik: Schneller als der Verstand

Von Harald Martenstein

Das Verfahren gegen den so genannten Autobahnraser von Karlsruhe war ein Indizienprozess. Der Angeklagte bestreitet die Tat. Ist er wirklich schuldig? Es liegt in der Natur solcher Prozesse, dass man die allerletzte, hundertprozentige Gewissheit in dieser Frage vielleicht niemals haben wird. An der Schuld des Angeklagten dürfe bei einer Verurteilung „kein vernünftiger Zweifel“ mehr bestehen, so lautet die Formel der Juristen. Das Karlsruher Landgericht ist zu der Auffassung gelangt: Es besteht kein vernünftiger Zweifel daran, dass der Angeklagte, ein Testfahrer der Firma DaimlerChrysler, auf der Autobahn bei Karlsruhe, mit Tempo 250, eine junge Frau und ihr Kind durch aggressives Fahren in den Tod gejagt hat.

Zwei Tote. Das Urteil der Richter, ein Jahr Gefängnis auf Bewährung, fiel milde aus, wie die deutsche Tradition es verlangt. Verkehrstäter müssen bei uns selten einsitzen. Die erste Instanz hatte immerhin 18 Monate ohne Bewährung verhängt. Vielleicht haben die Richter einen Rest von Zweifel, den sie nicht ganz abschütteln konnten, mit Hilfe des Strafmaßes auszudrücken versucht. Dann wäre Freispruch aus Mangel an Beweisen das richtigere Urteil gewesen. Die Frage nach dem Schuldigen und die Frage nach der angemessenen Strafe müssen getrennt beantwortet werden.

Der Autobahnraser, der wütende Drängler und Lichthupenterrorist, ist eine gesellschaftliche Hassfigur. Fast jeder hat schon Erfahrungen mit ihm gemacht. Psychologen erklären, dass es die relative Anonymität des Autos ist, geborgen im Fahrersitz, schwer sichtbar hinter der Windschutzscheibe, mit dem Gefühl der Allmacht über eine starke Maschine, dies alles zusammen, das Männer – fast immer Männer! – zu Rasern und Dränglern werden lässt. Außerhalb ihres Autos, Auge in Auge mit einem Gegenüber, verhalten sich diese Männer oft unaggressiv.

Ja, ein Auto kann eine Waffe sein, und doch ist es nützlich und aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken, genauso wie beispielsweise das Küchenmesser. Im Gegensatz zum Küchenmesser hat das Auto im Laufe der Jahre eine technische Evolution durchgemacht, bei der seine Gefährlichkeit und sein aggressives Potenzial für den Fahrer immer abstrakter wurden. Die neuen Autos liegen auch bei Tempo 200 ruhig auf der Straße, es ist still im Innenraum, die Lenkung flattert nicht, man hört Musik, und doch überfordert dieses Tempo die menschliche Reaktionsfähigkeit bei weitem, und man ist in aller Gemütlichkeit nur eine Sekunde vom Tod entfernt, dem eigenen oder dem Tod anderer. Die Evolution des Autos hat sich aber nicht nur von der menschlichen Natur emanzipiert, sondern auch von den Verhältnissen auf den meisten Straßen, die ein so schnelles Fahren meistens nur noch nachts zwischen zwei und vier Uhr zulassen.

Als Aggressionsventil ist das Auto ebenso gut geeignet wie ein brutales Videospiel. Videospiele können niemanden töten, Autos schon. Weil die potenzielle Waffe Auto so leicht unterschätzt wird, könnte die Justiz versuchen, eine Hemmschwelle für Autobahnrambos aufzubauen: mit abschreckenden Urteilen. In Karlsruhe ist das nicht passiert. Nun kann man – zu Recht – einwenden, dass Abschreckung durch drastische Strafen nicht immer funktioniert. Man kann darauf hinweisen, dass die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland seit Jahren sinkt, auch deshalb, weil die Autos immer sicherer werden. Zur Panik besteht also kein Anlass. Man kann auch sagen: Viele Leben werden durch das Auto gerettet, durch Krankenwagen zum Beispiel. Verteufelt das Auto nicht!

Alles richtig. Aber nichts davon beantwortet die Frage, warum es in Deutschland und fast nur noch in Deutschland erlaubt ist, auf bestimmten Straßen so schnell zu fahren, wie man möchte. Tempo 250 – obwohl höchstens ein professioneller Rennfahrer dieser Geschwindigkeit wirklich gewachsen ist, obwohl es auf den verstopften Straßen kaum Zeitgewinn bringt, obwohl die Raser auf den Autobahnen Angst und Schrecken verbreiten. Die Freiheit zu rasen: Offenbar ist sie ein Symbol. Wofür? Für den Autoindustrie-Standort Deutschland? Der Tod ist kein guter Werbeträger.

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