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Politik: Schnipsel mit Zukunft

Die Technik zur Rekonstruktion der Stasi-Akten kann viel – die Politik will nicht zahlen

Von Matthias Schlegel

Berlin - Die Forscher sind willig, doch die Politik ist schwach: Die computergestützte Technologie zur Wiederherstellung zerrissener Stasi-Unterlagen könnte nach Ansicht beteiligter Wissenschaftler Deutschland einen beträchtlichen Innovationsvorsprung bringen und hunderte Arbeitsplätze schaffen. Das Verfahren war im November 2003 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Doch die Politik ließ es nach einem quälenden Entscheidungsprozess Ende Oktober 2004 zunächst fallen, weil 2,5 Millionen Euro im Haushalt 2005 nicht aufzutreiben waren – so viel hätte die erste Stufe des entsprechenden Pilotprojekts gekostet.

Das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) hat die Technologie gemeinsam mit der Lufthansa Systems entwickelt, zur Testreife geführt und damit die Ausschreibung der Stasi-Unterlagenbehörde gewonnen. Bei IPK-Projektleiter Bertram Nickolay haben inzwischen viele potenzielle Nachnutzer angeklopft. Fachleute aus Polen, Rumänien, Argentinien und Chile, die ebenfalls mit einem zum Teil maroden Aktenerbe umgehen müssen, wollen die Erfahrungen der Deutschen nutzen. Auch das Bundeskriminalamt, mehrere Landeskriminalämter sowie in- und ausländische Geheimdienste haben ihr Interesse bekundet. Oft geht Beweismaterial dadurch verloren, dass die Täter es zerreißen. Die neue Technologie wäre in der Lage, selbst geschredderte Papiere wieder zusammenzufügen.

Nickolay hat Anzeichen dafür, dass andere Länder bereits an ähnlichen Verfahren arbeiten – gerade weil die Einsatzmöglichkeiten der computergestützten Rekonstruktion so groß sind. So haben sich bei ihm auch Restauratoren und Archäologen gemeldet. Die Chinesen etwa erhoffen sich von Nickolay Unterstützung beim Wiederaufbau zerstörter Figuren der weltberühmten Terrakotta-Armee. Das Stasi-Akten-Projekt, so ist sich Nickolay sicher, könnte die Grundlage sein, um das Verfahren hin zur Rekonstruktion dreidimensionaler Gegenstände weiterzuentwickeln.

Derzeit ruhen auch Hoffnungen hessischer Kunstfreunde auf Nickolays Team: Bei Ausgrabungen fand man vor einigen Jahren in einer Kirche in Bad Hersfeld rund 70 000 Einzelteile eines wertvollen Wandgemäldes, das im Dreißigjährigen Krieg zerstört worden war. Es gibt kaum eine andere Chance zur Wiederherstellung als die des Computerpuzzles.

Nickolay ist überzeugt, dass Deutschland eine Vorreiterrolle bei der Aufarbeitung von Aktenbeständen spielen kann. „Wir könnten eine Art Lizenzmodell entwickeln – aus dem Lizenzverkauf würden Gelder wieder in den Bundeshaushalt zurückfließen.“ All das hat er aufgeschrieben und an Bundestagsabgeordnete verschickt. Der stellvertretende Innenausschussvorsitzende Hartmut Büttner (CDU) scheut sich nicht, einen Vergleich zum Transrapid zu ziehen: Wieder drohe die Gefahr, dass eine in Deutschland entwickelte Innovation zuerst im Ausland angewendet werde. Doch die meisten Politiker ergaben sich achselzuckend der Macht der Haushälter. Einige fürchteten gar ein zweites Mautdesaster. Nickolay ist empört über solcherlei „Schwachsinn“: Die Kosten seines Projekts seien mit der Maut-Größenordnung überhaupt nicht vergleichbar. Außerdem habe es bei ihm im Gegensatz zur Maut eine vorherige Testphase mit einem funktionierenden Verfahren gegeben.

Im Forschungsministerium steht man dem Projekt aufgeschlossen gegenüber. Für 2006 sei dessen Förderung eingeplant, sagte ein Sprecher. Doch über die Finanzierung muss dann wieder der Bundestag entscheiden. Und inzwischen läuft die Zeit. Derweil lässt Sisyphos weiterhin grüßen: Noch immer beschäftigt sich im fränkischen Zirndorf ein Grüppchen fleißiger Menschen damit, per Hand aus Schnipseln wieder brisante Stasi-Akten zusammenzupuzzeln. Zehn Jahre brauchten sie für den Inhalt von gerade einmal 260 Säcken. 11,4 Millionen Euro hat das bisher gekostet. Rund 16 000 Säcke warten noch auf die Rekonstruktion. Das wird bei diesem Tempo mehrere hundert Jahre dauern. Und vielleicht 700 Millionen Euro kosten. Der Computer soll es für 30 Millionen Euro machen. Innerhalb von fünf Jahren. Wenn er denn darf.

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