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Politik: Schönreden einer Beinahe-Pleite. Trotz offizieller Erfolgsrethorik - die Ergebnisse enttäuschten die westlichen Staatschefs

Am Ende waren alle erleichtert. Die drohende diplomatische Pleite konnte vermieden werden.

Am Ende waren alle erleichtert. Die drohende diplomatische Pleite konnte vermieden werden. Und nach zwei stürmischen Verhandlungstagen haben sich die Wogen wieder geglättet - buchstäblich. Denn nachdem es in der Nacht wie aus Kübeln gegossen hatte, ging am Freitagmorgen eine strahlende Sonne über dem Goldenen Horn auf. "Die Natur übertreibt hier ein bisschen. Das Ergebnis des Gipfeltreffens entspricht nicht ganz dem Wetter. Niemand kann hier von einem strahlenden Erfolg sprechen", kommentierte ironisch ein Diplomat.

Dennoch konnten Bill Clinton und die europäischen Regierungschefs pünktlich um zehn Uhr morgens ihre Füllfederhalter zücken und die Europäische Sicherheitscharta und den neuen KSE-Vertrag unterzeichnen - ein glimpflicher Abschluss der turbulenten Istanbuler Gipfelkonferenz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Einer fehlte allerdings beim schlichten Unterzeichnungszeremoniell: Boris Jelzin. Der russische Präsident war schon am Vorabend wieder nach Moskau zurückgeflogen. Nach der rüden Rede, in der er polternd von der "Nato-Aggression" gegen Jugoslawien gesprochen, sich jede "Schulmeisterei" des Westens verbeten und den "tschetschenischen Mördern" Tod und Vernichtung angedroht hatte, blühten in Istanbul die Spekulationen. War Jelzins vorzeitige Abreise eine politische Drohgeste? Oder gar der Beginn einer neuen Eiszeit?

Nein, versichern Diplomaten, die den russischen Präsidenten in Istanbul zu sehen bekamen. Boris Jelzin wirke zwar körperlich und geistig stabiler als noch beim Kölner G-8-Gipfel, als er von seinen Begleitern beim Gehen gestützt werden musste. In Istanbul bewegte sich der gewichtige Kreml-Chef auf den Fluren des luxuriösen Ciragan-Palastes, in dem die Regierungschefs tagten, schwerfällig wie ein Bär, aber ohne Hilfe. Dennoch sei er schlicht nicht in der Lage, mehr als einen Verhandlungstag körperlich durchzustehen. Selbst die etwas jüngeren Marathonläufer wie Joschka Fischer wirken nach dem zweitägigen Verhandlungsstress reichlich geschafft. "Ich habe seit drei Tagen kaum geschlafen", stöhnte der sichtlich müde Außenminister.

Tatsächlich brachten vor allem er und seine Kollegen am Vorabend das Eis zum Schmelzen. Während die Regierungschefs im Scheinwerferlicht ihre Reden vorlesen, entwickeln die Außenminister der Kosovo-Kontaktgruppe - USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien und Russland - in den Nebenräumen eine hektische Aktivität. Offenbar wollten die Russen ursprünglich aus der Sicherheitscharta und der Schlusserklärung des OSZE-Gipfels alle Passagen streichen, die den Tschetschenien-Krieg kritisch erwähnten und Russlands Handlungsspielraum einengen könnten. Die westlichen Staaten wiederum wehren sich gegen eine Verwässerung der Texte. Ein KSE-Vertrag, der nicht eingehalten wird, und eine Sicherheitscharta ohne Inhalt, werde man nicht unterzeichnen, kündigen die westlichen Verbündeten an. Andererseits wollen sie die letzte große internationale Gipfelkonferenz des Jahrhunderts auch nicht platzen lassen. "Es steht viel auf dem Spiel", mahnt ein Kanzlerberater.

Der Kompromiss, der schließlich am Freitag unterzeichnet wurde, stellt niemanden so recht zufrieden. Über die Folgen des mageren Kompromisses und der vagen, je nach Interessenslage auslegbaren Formulierungen, macht sich offenbar niemand Illusionen: "In Tschetschenien wird sich wenig ändern. Der Krieg wird weitergehen, das Leiden der Menschen ist nach diesem Gipfeltreffen nicht zu Ende", fürchtet ein deutscher Diplomat. Der russische Außenminister Igor Ivanow lehnte eine ausländische Vermittlung im Kaukasus bereits Freitag abend ab, als die Tinte unter dem Gipfeldokument noch nicht ganz trocken war. Genausowenig gibt es konkrete russische Zusagen für die Einreise einer OSZE-Delegation.

Vor allem einer weiß, dass man ihm das windelweiche Gipfelergebnis zu Hause um die Ohren schlagen wird - der grüne Außenminister. Er hat zwar bienenfleißig in Istanbul alles versucht, was möglich war, hat bis zur Heiserkeit hinter den Kulissen Gespräche geführt und seinen russischen Kollegen Igor Ivanow bekniet. Am Schluss musste er im kleinen Kreis jedoch zugeben: "Es gibt keine Chance auf eine substanzielle Veränderung der russischen Tschetschenien-Politik."

Der Kanzler sieht das Ergebnis des OSZE-Gipfels allerdings optimistischer: "Wir haben das Scheitern des Gipfels verhindert und haben Wege zu einer politischen Lösung beschritten, die man als achtbar bezeichnen kann", sagte er am Ende des Gipfeltreffens. Richtig zufrieden mit dem Ausgang des Ausflugs nach Istanbul können aber wohl nur Gerhard Schröders Frau Doris und ihre Tochter Clara sein. Zu Hause, so berichtete der Kanzler, gab es vor der Abreise nämlich heftige Debatten, ob er denn wirklich in die von Erdbeben bedrohte Türkei reisen müsse. Am Freitag kehrte er heil zurück. Die Erde hat beim zweitägigen OSZE-Gipfel nicht gebebt. Und das politische Erdbeben konnte auch verhindert werden.

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